Blumen für den Führer
ungerecht. Aber in einer Gemeinschaft musst du immer das Ganze sehen, nicht die Interessen des Einzelnen. In einer Gemeinschaft sind die meisten eben nicht wie du, das heißt, du darfst nicht von dir auf alle anderen schließen. Wenn du das einmal verstanden hast, ist die Sache gar nicht mehr so schwierig.« Frau Misera fixierte Reni sehr genau. »Du musst
mir einfach vertrauen, Reni. Du vertraust doch auch dem Herrn Grafen, deinem Vater, oder nicht?«
Reni nickte schwach.
»Wir wollen doch, dass es Haus Ulmengrund auch in Zukunft gut geht. Auch dann, wenn du nicht mehr hier leben wirst. Gibst du mir recht?«
»Ja«, sagte Reni leise.
»Ihr habt also mit diesem Jungen geredet?«, fragte Frau Misera.
Reni zögerte mit der Antwort. Was sie eben gehört hatte, klang, als wollte Frau Misera die Erzieherin Fräulein Knesebeck loswerden, und sie, Reni, sollte es verstehen. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass der Vater der gleichen Meinung sein könnte. Sie hatte ihm gesagt, dass Fräulein Knesebeck so etwas wie eine Freundin war.
»Kurz und gut«, sagte Frau Misera. »Wenn die Polizei auftaucht, werden wir uns zurückhalten.«
»Und was soll ich sagen?«
»Du sagst, dass du den Jungen bei der Feldarbeit gesehen hast und dass er versucht hat, mit euch ins Gespräch zu kommen. Dass aber niemand von euch darauf eingegangen ist.«
Jemand klopfte an die Tür.
»Würdest du bitte für mich öffnen?«
Reni stand auf. Es war der Hausmeister. Seine Wangen waren rot.
»Ick kann det Mädel nich finden, Frau Misera«, sagte er. »Wie vom Erdboden verschluckt. Ick habe die Remise durchsucht, bin durch alle Zimmer gegangen. Och im Keller habe ick nachgesehen. Aber nüscht.«
Frau Misera blickte Reni an. »Wir vermissen Monika Otten.
Einige Mädchen sagten, sie war heute Morgen nicht beim Frühstück. Ich mache mir Sorgen.«
»Und der Friederike Loh oben im Schlafsaal jeht es sehr schlecht, soll ick Ihnen sagen«, fügte der Hausmeister hinzu. »Se hat hohes Fieber.«
»Danke«, sagte die Leiterin. »Ich kümmere mich darum. Ich danke auch dir, Reni, dass ich so vernünftig mit dir reden konnte.«
»Darf ich mit zu Friedel hochkommen?«, fragte Reni.
»Es wäre mir aber lieb, wenn du ein bisschen Abstand hieltest, damit du dich nicht ansteckst.«
Reni versprach es und sie verließen das Büro. Der Hausmeister ging in den Keller. Im Treppenhaus standen Mädchen in kleinen Gruppen und tuschelten. Sowohl Monikas Verschwinden als auch Friederikes Fieber hatten sich herumgesprochen und sorgten für zusätzliche Aufregung.
Frau Misera klatschte in die Hände. »Ich bitte sehr darum, dass alle Dienste wie üblich erledigt werden, auch wenn es scheinbar Anlässe geben mag, damit zu zögern. Wer in die Küche gehört, geht in die Küche, wer im Speisesaal die Tische deckt, beginnt bitte damit jetzt. Ich wünsche kein Tohuwabohu, meine Damen.«
Sie ging die Treppe nach oben. Reni folgte ihr. Im Augenwinkel sah sie Fräulein Kaul und hörte, wie sie ebenfalls Anweisungen erteilte.
Am oberen Treppenabsatz drehte sich Frau Misera um. »Ach, Fräulein Kaul, bitte sagen Sie Herrn Kiank, er möchte den Hof im Auge behalten und mir oben Bescheid sagen, sobald die Polizei eintrifft.«
In dem Schlafsaal standen ein paar Mädchen und Fräulein Knesebeck an Friederikes Etagenbett und blickten sorgenvoll.
»Sie hat jetzt über vierzig«, sagte die Erzieherin und zeigte der Leiterin das Thermometer.
»Hilde, gehst du bitte runter und sagst Fräulein Kaul, dass sie sofort den Arzt anrufen möchte.« Frau Misera legte das Thermometer in eine Schale auf dem Nachttisch.
Als Reni Friederike sah, erschrak sie. In der kurzen Zeit, seit sie bei ihr gewesen war, hatte sich ihr Gesicht verändert. Die Haut war grau, die geschlossenen Augen lagen tief, die Wangen waren eingefallen und ihre Lippen dünn und weißlich wie Paketschnüre. Aber der Mund bewegte sich.
»Seid doch mal still!«, befahl Frau Misera.
Alle horchten. Friedel redete im Schlaf. »Moni, Moni, sag es mir doch bitte! Monika …« – Der Rest klang wirr und unverständlich.
Schwarzerden
I n einiger Entfernung stand wie ein Schemen die Scheunenruine. Ihr Anblick löste in Jockel Erleichterung aus, aber auch eine überraschende Erschöpfung.
Er blieb in der Deckung des Waldsaums. Bis zu der Ruine waren es etwa hundertfünfzig Meter über offenes Feld. Es war klüger, zu warten, bis das Licht abnahm. Die Gegend war hügelig und nicht leicht zu überschauen, aber was ein
Weitere Kostenlose Bücher