Blumen für den Führer
ließe …«
Es war fast Mitternacht, aber Reni spürte nicht die geringste Müdigkeit.
»Du musst wissen, die Wände einiger Hütten waren von Anfang an aus Blech, nur viele Dächer eben nicht, und weil
der Oganga nun auch richtige Operationen durchführen muss, ›ist das kein Zustand‹, wie mein Vater sagt. Meine Mama hat mir geschrieben, dass es dort jeden Tag mehr Patienten werden, die dringend Hilfe brauchen. Sehr verbreitet ist die sogenannte Schlafkrankheit, die man bekommt, wenn man von der Tse-Tse-Fliege gestochen wird. Die Neger sagen nicht Krankheit, sondern Wurm. Der Wurm macht auch den Schmerz. Wenn sie ihren Zustand erklären, erzählen sie von der Wanderung des Wurms, wie er zuerst in den Beinen war, dann in den Kopf kam und von hier nach dem Herzen wanderte, aus diesem in die Lunge ging und sich zuletzt im Bauch festsetzte. So schreibt es meine Mutter. Die Neger sagen also: ›Es tut nicht mehr weh, der Oganga hat den Wurm hinausgejagt‹; oder: ›Oganga, der Wurm ist zurückgekommen‹ … Ich finde das süß, du nicht auch?«
Friedel schmunzelte und hauchte: »Danke.« Es ging ihr spürbar etwas besser nach der Spritze.
Es gab auch andere Themen zwischen ihnen: Reni berichtete, dass Monika für unbestimmte Zeit im Strafzimmer unterm Dach eingeschlossen worden sei. Sie verschwieg auch nicht den Zwiespalt zwischen Frau Misera und Fräulein Knesebeck, und dass man denken könnte, die Misera wolle die Erzieherin unter allen Umständen loswerden.
»Mit mir macht sie natürlich gutes Wetter«, fuhr Reni fort. »Sie versucht es jedenfalls. Aber umsonst, das kann ich dir sagen. Sie weiß ja, dass ich in ein paar Tagen nach Berlin fahre, daran denkt sie nämlich, und natürlich, dass ich eine Grafentochter bin. Dass sie so böse ist, hätte ich nicht gedacht. Ich grüble darüber nach, wie ich es erreichen kann, dass uns Fräulein Knesebeck erhalten bleibt. Mein Vater wird mir dabei helfen.«
»Erzähl mir von der Begegnung in Berlin«, bat Friedel mit schwacher Stimme. »Erzähl mir, wie du nach Berlin fährst und wie du dort in der Staatskanzlei empfangen wirst und wie man dich in das vornehmste Besprechungszimmer führt. Und dann kommt dieser unglaubliche Augenblick …«
»Dort werd ich aber gar nicht sein.«
»Ist doch egal. Erzähl es trotzdem, bitte.«
Reni musste lachen. »Jedenfalls freue ich mich, dass es dir scheinbar besser geht … Also gut. Wir fahren frühmorgens mit dem Automobil des Herrn Grafen von Gut Haardt nach Fulda zum Bahnhof. Dort ist auf der Eisenbahn für uns ein Erste-Klasse-Abteil reserviert. Im Speisewagen steht das Frühstück bereit. Die Tische sind weiß gedeckt, und es gibt süßes Brot, englisch gebratene Eier und echten Lachs aus Norwegen, der ein Vermögen kostet, weißt du?«
Friedel staunte. Jetzt war der Schleier ihres Blicks wie weggewischt.
»Es wird alles von der Berliner Staatskanzlei bezahlt. Wir trinken Rotwein aus Frankreich, dazu gibt es Kuchen.«
»Zum Frühstück?«
»Als zweites Frühstück. Die Fahrt dauert den ganzen Tag, also wird man uns im Salonwaggon Zigarren, Kognak und Zeitungen anbieten …«
»Zigarren!«, rief Friedel und musste husten.
»Für den Herrn Grafen. In den Zeitungen lesen wir, dass es für alle wieder Arbeit gibt und im ganzen Reich niemand mehr hungern muss. Der Zug rattert durch Thüringen, und in den Dörfern und kleinen Städten winken uns die Leute zu, wenn wir vorüberfauchen und zischen und ordentliche Wolken in die blaue Luft dampfen. Die Lokomotive pfeift … Jiep! Jiep! …«
Friedel machte es nach. »Fiep, fiep!« Sie hustete. So elend diesmal, dass Reni sich erschreckte.
»Spätestens in Leipzig oder Halle steigen viele wichtige Leute in unseren Waggon, weil sie die Eröffnung der Olympischen Sommerspiele am ersten August ebenfalls miterleben möchten. Es ist ein einmaliges Ereignis. Jeder will natürlich Zeuge sein, weil er sich vorstellt, wie er in vielen, vielen Jahren seinen Enkelkindern erzählt, dass er dabei war, als unser Führer im Olympiastadion die Eröffnungsrede gehalten hat, und dass er miterleben durfte, wie Sportler fast aller Völker der Welt zu uns nach Deutschland gekommen sind, um sich fair und freundschaftlich zu messen und den weltweiten Frieden und die Freundschaft zwischen den Rassen zu fördern. Wir lernen Menschen kennen, die mit dem Führer persönlich bekannt sind. Sie erzählen uns Anekdoten aus seiner Jugend, die wir noch nicht kennen, von seinen Taten im Krieg, von seinen
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