Blumen für den Führer
ehrlich sein«, rief der Mann herunter, »und dir sagen, dass du mir ganz schön ausgekotzt vorkommst? Wenn ich dich so sehe, würde ich dir noch eine halbe Stunde geben, und das war’s dann. Aber mach dir keine Sorgen, das kriegen wir hin. Ich bin nicht der liebe Gott, aber ich kann zwischen Freund und Feind unterscheiden. Und es gibt Zufälle, weißt du, ohne die unser Erdenleben gar keinen Sinn machen würde.«
Mittlerweile war er bei seinem Motorrad angekommen und hatte schon die schwarze Lederabdeckplane seines Beiwagens aufgeknöpft.
Jockel setzte Schritt vor Schritt. Er schaffte es. Was ihn am meisten vorwärtstrieb, war die Verwunderung.
Als hätte der Fremde erraten, was ihm durchs Herz ging, rief er: »Das mit dem Zufall ist so. Als ich hörte, dass dieser Hannes vom Schlömerhof irgendwo tot im Feld liegt, dachte ich: Aha, da hat er also doch eins auf die Griffel gekriegt, der Schlingel. Ich kannte den kaum. Aber wie ich vor zwei Wochen das Brot vom Bäcker in Gersfeld nach Ulmengrund bringe, sehe ich, wie so ein Mädel von denen vor ihm wegrennt, verstehst du? Niemand weit und breit. Nur ich, weil ich ausgerechnet in dem Moment um die Ecke dampfe. So ist das mit dem Zufall. Hoppla, denke ich, so einer ist das. Nicht dass ich ihn das erste Mal gesehen hätte, aber ich wusste nicht mal seinen Namen. Man hat ihn auf den Dorffesten gesehen, oder?«
Jockel stand jetzt vor ihm und konnte immer noch nicht glauben, was passierte.
»Nun spring schon rein!«, sagte der Mann. »Das ist wie in einem Flugzeug, glaub mir, es macht Spaß.« Er half Jockel einzusteigen und legte ihm die feste Lederschürze um, gab ihm einen Lederhelm und eine Windbrille. »Jetzt denkt jeder, der mich kennt, dass du ein Haufen Brot bist. So einfach geht das.«
Jockel hätte gerne mitgelacht.
»Kannst du so ein Kraftrad fahren?«
»Woher denn?«
»Dann bring ich es dir bei. Das kann man immer brauchen. Ein richtiger Bengel muss Motorrad fahren können. Ich muss demnächst nach Norden, da kannst du mitkommen und mir ein bisschen helfen.« Er zog sich seine eigene Windbrille über, es sah verwegen aus, dann stieg er auf den Sattel und trat die Maschine an. Es knallte fürchterlich. Jockel zuckte zusammen – und war gleich darauf erleichtert, denn nun wusste er, wer vorhin auf ihn geschossen hatte.
Das Gespann machte einen Satz nach vorne. Und es war wie Fliegen und machte wirklich Spaß! Die Felder flogen links und rechts vorbei, die tiefe Sonne blendete. Jockel staunte bloß. Jetzt war er nicht mehr tot, jetzt träumte er bestimmt!
Sie rasten im eigenen Geknatter. Herrlich, wie ihm der Fahrtwind das Gesicht zerreißen wollte! Gleich würden sich die Räder von der Erde lösen. Die roten Dächer von Schwarzerden und der umliegenden Höfe fielen zurück, die Felder streckten sich wie bunte Tücher bis an den Horizont, dazwischen hingeworfene Bäume, Hecken, Wälder.
»Fulda!«, schrie der Mann. »Nach Fulda erst mal, Junge. Wie alt bist du eigentlich?«
Jockel brüllte es ihm zu. Der Fahrtwind füllte seinen Mund. Wie hoch sind wir, hätte er fast gefragt. Jetzt flogen sie an Ebersburg vorbei, rechts hinten wölbte sich die Wasserkuppe. Der Mann nahm etwas Gas raus, damit er reden konnte.
»Ich musste vorhin in aller Frühe eine der Erzieherinnen von Ulmengrund nach Fulda bringen. Die hat mir was Interessantes erzählt! Dann bin ich hierher zu meiner Schwester, die in Schwarzerden wohnt, verstehst du, und da sehe ich einen Bengel vom Dorf wegrennen und denke, das muss der arme Jockel sein.«
Das war er, dachte Jockel. »Danke!«, rief er und wollte etwas Wichtiges fragen, aber der Wind riss alle Fragen aus ihm fort, weil das Motorrad wieder schneller fuhr. Sie flogen weiter.
»Und deinen Eltern gebe ich Bescheid, mach dir keine Sorgen! Ich sag doch: Ich unterscheide zwischen Feind und Freund.«
Sie flogen hohe, weite Schleifen – über Kalbach, Neuhof, Eichenzell, und vorne konnte er schon Künzell liegen sehen. Dahinter flirrte bunt die Stadt.
Glückskind
R eni machte sich wegen Monikas Verfassung große Sorgen. Ihr Schweigen, das Zittern, ihre befremdliche Weigerung, sich überhaupt jemandem zuzuwenden. Als trüge sie einen eisigen Mantel.
»Wo warst du denn um Himmels willen?«, fragte Fräulein Kaul. Sie und die Kollegin führten Reni und Monika in die Wohnung der Leiterin, die im Südflügel des Hauses lag und einen eigenen Zugang zur Straße hatte. Reni war nie zuvor hier gewesen. Sie setzte sich neben Monika
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