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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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Zurückweisung sehr gelitten hat.« Reni sah, dass nun auch ihr Vater gerührt war. Er nickte
schwach und streifte ihren Blick. »Aber ich glaube auch, dass sie Ihnen verziehen hat. Ich wünsche es mir jedenfalls.« Sie machte eine Pause. Dann sagte sie: »Den Brief des Doktors an mich habe ich gestern geschrieben; er floss mir sozusagen aus der Feder.« Ihr war klar, welchen Ton sie anklingen ließ und dass sie um seine Anerkennung buhlte.
    Der Herr Graf legte die Hände an sein Kinn. »Es ist eine Schande, dass du nichts tun wirst, außer ihm einen hübschen Strauß zu überreichen. Ich bin sicher, der Führer wäre ebenso verblüfft wie ich, zu hören und zu erleben, mit welcher Hellsicht, Vernunft und Aufrichtigkeit du die ernstesten Dinge dieser Welt einschätzt. Ich möchte dir sagen, dass ich außerordentlich stolz auf dich bin. Du hast mich ganz und gar für dich eingenommen, mein Kind.« Er zögerte und sein Blick wanderte zu den Fenstern.
    Dann sagte er feierlich: »Die Zukunft unseres Volkes liegt in den Händen von Männern, deren Klarblick das Ergebnis eines sehr langen Geschichts- und Erkenntnisprozesses ist. Es mussten entsetzlich viel Not und Ungerechtigkeit geschehen, um den Fortschritt bis in unsere Gegenwart zu tragen, von der wir uns alle erhoffen, dass sie ein Neubeginn ohnegleichen ist. Ich bin überzeugt, dass wir alle Zeugen einer Zeitenwende sind. Von nun an wird für alle Völker die Kulturgeschichte grundlegend verändert sein. Es geschieht etwas … es ist im Begriffe zu geschehen, und wir haben Anteil an dieser herrlichen Gestaltung, Reni … es passiert etwas, das mir nicht minder bedeutsam und einschneidend vorkommt als der Wechsel der Zeitrechnung, von der alten Zählung der Jahre ab urbe condita, also seit der Gründung Roms, zu unserem christlichen Kalender, der mit der Geburt Jesu einsetzt.« Er zögerte. »Und wir, mein Kind, sind Zeugen, aber auch Akteure dieses epochalen Wandels.«

    Er hatte den Zettel mit seinen Notizen vor sich auf den niedrigen Tisch gelegt. Nun hob er ihn wieder auf.
    »Siehst du, da habe ich mir so viele Gedanken gemacht, was ich dir raten und beibringen muss, damit die Begegnung ein Erfolg wird, und jetzt stellt sich heraus, dass du viel zu begabt bist für solche Nachhilfe und ich die meisten dieser Punkte vernachlässigen kann, weil du all das ohnehin mit deinem Gefühl und deiner Vernunft zu unser aller Zufriedenheit ausrichten wirst. Da habe ich keine Bedenken.«
    Er wedelte mit dem Papier durch die Luft. In diesem Moment klopfte es an die Tür. Fräulein Dohm trat ein und teilte mit gedämpfter Stimme mit, das Frühstück sei angerichtet.
    Sie standen auf. Reni folgte dem Herrn Grafen, ihrem Vater, in das Esszimmer, dessen Fenster noch höher und breiter waren als die des Arbeitszimmers. Die Wolken vom Vortag hatten sich verzogen. Das frische Sonnenlicht fiel durch die Scheiben und warf die Schatten einiger Zimmerpflanzen über die Tapeten, Teppiche und Möbel aus honigfarbenen Hölzern. Der Raum strahlte eine wohlige Wärme aus. Reni nahm an dem Tisch Platz, der wegen seiner Länge nur halb eingedeckt worden war. Jenseits der schneeweißen Tischdecke war die blanke Oberfläche zu sehen, dunkles Holz. Was sie sofort fesselte, war eine starke Glasplatte in der Größe des Tisches, die das schöne Furnier vollständig bedeckte, schützte und unberührbar machte. Solche Möbel hatte Reni nie zuvor gesehen.
    »Ich habe das Gästezimmer für dich herrichten lassen«, sagte der Vater und setzte sich im rechten Winkel zu ihr an das eingedeckte Ende des Tisches. »Eigentlich bist du ja alles andere als ein Gast in diesem Haus. Wenn du möchtest, kannst du also hierbleiben und musst gar nicht wieder zurück
nach Ulmengrund. Es sind ja Ferien, nicht wahr? Genau genommen kannst du so lange bleiben, wie es dir gefällt. Mit Frau Misera komme ich schon überein, mach dir da bitte keine Sorgen.« Er hob den Brotkorb hoch und hielt ihn ihr entgegen.
    Sie dankte und nahm eine Scheibe Weißbrot. Es gab Butter, Konfitüre, Bückling, Eier, Leberwurst und Käse. Alles lag in blinkenden Silberschalen oder auf Tellern aus geschliffenem Glas. Mitten auf dem großen Tisch stand eine riesige Vase voller weißer Lilien.
    Als der Graf merkte, dass sie die Blumen anschaute, sagte er: »Die hat unser Stallknecht Dietrich gestern Nachmittag geschnitten. Er kümmert sich ein bisschen ums Gewächshaus und den Garten. Du wirst ihn mögen, er lacht viel. Ich denke darüber nach, ihn

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