Blumen für den Führer
kannte, der wirklich eingeschlossen war? Ich meine, so richtig eingeschlossen, nicht bloß eine Zimmertür, die man mit einem Schraubendreher ganz einfach aufkriegt … Schade, den habe ich jetzt oben liegen lassen, sonst hätte ich es dir gezeigt … Der Mann war mein Vater. Ich habe ihn nur ein Jahr lang erlebt und nie ein einziges Wort mit ihm sprechen können, weil es ihm die Sprache verschlagen hatte. Das war im Krieg, in einem dieser schrecklichen Unterseeboote, weißt du? Er war dort sehr lange eingeschlossen. Er hatte wahrscheinlich gar kein Gefühl mehr dafür, wie viel Zeit vergangen war und wie die Zeit weiter verging, ob schnell oder langsam. Für ihn verging sie gar nicht mehr; sie staute sich wie Wasser und er ist vielleicht darin erstickt. Ich stelle mir vor, er hat gedacht, dass er schon mausetot sein muss.« Sie machte eine kurze Pause. »Nein, ich kann mir gar nichts vorstellen, Friederike, nichts. Ich war damals noch nicht mal ein Schulkind. Immer habe ich mir gewünscht, dass er mir erzählt, wie es gekommen ist, dass er nicht mehr sprechen konnte. Aber ich habe mich nie getraut zu fragen.«
Friederike hustete. Dann flüsterte sie: »Fräulein Knesebeck, ich möchte Ihnen etwas sagen.«
Waltraut fasste ihre Hand.
»Ich schäme mich, weil ich es nicht schon früher …« Der Husten unterbrach sie. Es war ein trockener, harter Husten, der sich nicht beruhigen ließ.
»Vielleicht solltest du nicht so viel sprechen, Friedel. Kriegst ja gar keine Luft.«
Es dauerte eine Weile, bis das Mädchen noch einmal Vertrauen fasste und die Worte wiederholte, mit denen es begonnen hatte.
»Ich schäme mich so sehr, weil ich nicht schon gestern damit zu Ihnen gekommen bin. Es ist wegen Monika. Die Ärmste. Es ist so schrecklich, Fräulein Knesebeck …«
Herr Brot-Korff
F rau Goldschnigg, Siggis Mutter, war verschwunden. Ihre Wohnung war aufgebrochen und verwüstet worden. Jockel konnte sich einfach nicht erklären, was dort geschehen war. Vor allem wusste er nicht, wie er jetzt von Schwarzerden aus seiner Mutter auf dem Schlömerhof eine Nachricht zukommen lassen sollte, damit sie sich nicht unnötig ängstigte.
Mit letzten Kräften war er aus dem Garten in die Haselsträucher außerhalb geschlichen, hatte dort Luft geholt und erschreckt zugesehen, wie im ersten Morgenlicht die Leute aus den Häusern und Höfen kamen und in die Felder gingen. Dann hatte ihn die Angst überwältigt, und er war geduckt zu einem viel zu offenen Waldstück gerannt, wo er jetzt im morgendlichen Halblicht hockte und sich nicht entscheiden konnte, ob er noch vor Sonnenaufgang weiterfliehen sollte oder erst, wenn alle bei der Arbeit waren.
Von Siggis Mutter hatte er sich etwas zu essen erhofft, vielleicht auch trockene Kleidung. Damit wäre er, noch im Dunkeln, zurück in die Felder gelaufen und hätte sich auf den Weg nach Fulda gemacht, um dort einen Lastwagen oder einen
Güterzug zu erwischen, der nach Norden fuhr. Jetzt war es fast hell, und der nächste Freund, der ihm einfiel, wohnte in Gersfeld, und das war die falsche Richtung.
Er war nah daran, sich aufzugeben, weil alles keinen Sinn ergab – und weil er vielleicht wirklich ein Totschläger war. Er hatte Hannes’ Stiefel gepackt und hochgerissen, und dadurch war er hingestürzt, in die Sense, die am Boden lag. Er, Jockel, hatte es getan und es war seine Sense gewesen. Er hätte die Nerven behalten sollen, dem Streithahn ausweichen können, er hätte Fritz um Hilfe bitten müssen …
Die Fantasie suchte ihn heim, wie der Vater zu Hause auf die Nachricht reagierte. Er würde sich bestätigt fühlen, dass beide Söhne nur Halunken seien.
Als Kind hatte er davon geträumt, dass der Vater nicht ihr wahrer Vater sei. Ihr wirklicher Vater sei ein fremder Mann, der in der Nähe wohnte und sich aus irgendeinem Grund nicht zu erkennen gab. Eines Tages aber würde er kommen und den falschen Vater entlarven und davonjagen. Von da an würde das Leben leicht werden und auch die Mutter würde nicht länger so oft traurig sein und heimlich weinen.
Plötzlich hörte Jockel Hundegebell. Es war entfernt, aber es erschreckte ihn so sehr, dass er aufsprang und in die andere Richtung loslief. Am Ende des Wäldchens lag ein flacher Hang, der zu einem Bach führte. Dorthin wollte er, um seine Spur zu verwischen. Er stolperte und stürzte hin, raffte sich auf und hetzte weiter durch das Unterholz. Fichtenzweige peitschten sein Gesicht, er spürte nichts.
Ein Stück vor ihm lag der
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