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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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zweit darin zu schlafen. In allen Zimmern.
    Sie dachte an den Vater, an den Umzug morgen Vormittag und an Berlin, die Olympischen Spiele, das Stadion, die Gräfin und ihre Soireen, sie dachte an den Führer und den Urwalddoktor. Eigentlich hatte sie den Freundinnen neue freudige
Nachrichten aus Lambarene mitteilen wollen. Wie die Mutter einem Negerjungen viel Schmerz erspart, indem sie an ihm neue Medikamente ausprobiert, die der Vater im Labor erfunden hat. Und der Oganga lobt die Eltern vor allen versammelten Patienten. Die Neger singen und tragen beide auf Stühlen zum Fluss hinunter, wo ein großes Freudenfest beginnt.
    Reni horchte. Im Innern hörte sie, wie Janka weiter rief: Du hast kein Herz! Du hast kein Herz!

Verknallt
    J ockel fieberte seit gestern, fröstelte und schwitzte. Sein Kopf war heiß und tat weh. Jockel sah die Wiese auf der Wasserkuppe vor sich, die Baracke, den Professor, die Jungen und den Rhönfalken , wie er landete. Und Reni, ihren schönen Blick, er hörte ihre warme Stimme, als sie aus dem Einspänner zu ihm herüberrief während seiner Flucht. »Was tust du hier? Nun sag was!« Und wie er zurückrief: »Ich kann nicht mehr nach Hause.« Im Nieselregen. Nichts hatte er vergessen.
    Nachts sah er Hannes mit der Sichel.
    Die Spitze stak aus seiner Brust empor.
    Er sah seinen Bruder Helmuth, wie er den Vater mit einem furchtbaren Griff gegen den Schrank drückte, und er sah den Vater, wie er ihn, Jockel, und den Bruder prügelte, mit Stöcken, Riemen, Fäusten. Jahrelang. Er sah das hohe Scheunenfenster, von dem aus man den Himmel über der Wasserkuppe
sehen konnte, und wie die Segelgleiter ihre Thermikkreise drehten. Er sah die Mutter, wie sie sich versteckte, weinte, bettelte, ebenfalls die Nerven verlor und ihre Kinder schlug. Er sah den Lehrer in der Schule, der mit seiner Kreide zielte, wenn ein Schüler schlief, und viele Schüler schliefen vor Erschöpfung ein, weil sie daheim wie Große schuften mussten.
    Und wieder Reni mit dem wunderbaren Blick. Ihr Mund. Die warme Stimme hörte er, während er natürlich wusste, dass er sie nicht mehr wiedersehen würde.
    Er fieberte, er fror, er kochte. Korff hatte ihm Wasser hingestellt und etwas Haferbrei mit Sirup, der kalt geworden war. Er hatte kein Gefühl für Zeit, weil er immer wieder einschlief.
    Nachdem gestern erst die junge Frau und später Korff die kleine Wohnung verlassen hatten, war Jockel auf der Pritsche eingeschlafen. Irgendwann nachts war er verschwitzt und ängstlich aufgewacht und hatte gleich die Fieberhitze in den Augen wahrgenommen: Schwindel, Frösteln, Übelkeit. Er hatte mit schrecklichem Durst Wasser getrunken und sich wieder in die Decken gewickelt. Korff war mit dem ersten Sonnenlicht hereingekommen. Da war Jockel wieder wach geworden. Erleichtert hatte er gehört, wie sich der Schlüssel drehte. Es hatte Tee und Brot gegeben. Korff hatte Fieber gemessen, und es hatte Jockel erstaunt, dass dieser Mann ein Thermometer bei sich trug. »Fast vierzig«, hatte er gemurmelt. Dann hatte Jockel nur gehört, wie er im Hof mit dem Gespann davongeknattert war.
    Das schon matt werdende Licht verriet ihm, dass es früher Abend war. Waren Renis Augen grün? Nein, grau. Und ihre helle Haut und das goldblonde Haar, wo sieht man so was Schönes schon?
    »Was tust du hier?«, hatte sie gerufen. – »Ich kann nicht
mehr nach Hause.« – »Warum?« – »Darum.« Dafür schämte er sich jetzt. – »Du wirst krank.« – »Umso besser.« – »Ich kann dich mitnehmen.« – »Das kann ich nicht annehmen. Du wirst es bald verstehen.« Das etwa war das Letzte gewesen, was sie einander sagten. Und er war sicher, dass Reni mittlerweile auch verstanden hatte, warum er nicht zu ihr in den Wagen hatte steigen können.
    Er überlegte, ob es vielleicht besser wäre, nicht wegzurennen, sondern zurückzukehren. Wenn er den Polizisten erklärte, was geschehen war, würde ihm womöglich nichts passieren. Weil er kein Mörder, sondern nur ein ungeschickter, dummer Unglücksrabe war.
    Er schlief und träumte, wachte auf und weinte. Korff hatte eine Illustrierte mitgebracht mit Bildern aus Amerika. »Weil du nach Hamburg willst. Ich weiß schon.« In Neuyork gab es ein Turmhaus, das »Wolkenkratzer« hieß, fast vierhundert Meter in den Himmel ragte und hundertzwei Etagen hatte.
    Es fiel ihm schwer zu glauben, dass es so was gab. Er träumte, dass er mit einem Luftschiff übers Meer fuhr und der Zeppelin an der Spitze des Wolkenkratzers ankerte.

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