Blumenfresser
Entthronung der Habsburger, der Erklärung der Unabhängigkeit, und weil Klara Getümmel mochte, gingen sie am Abend auf die Straße. Noch am Nachmittag war sie von Kopfschmerzen geplagt worden, das Mittagessen hatte sie erbrochen, und die Unpässlichkeit raubte ihr die Kraft, unaufmerksam blätterte sie in irgendeinem Buch, las aber nicht, doch dann, als die Dämmerung den Himmel rot färbte und es auf der Straße laut wurde, Geigenspiel, Trompetengeschmetter und misstönende Gesänge durcheinander klangen, lebte sie auf und wollte um jeden Preis hinaus, sie lachte aus vollem Halse, als würde sie sich wunderbar fühlen. Doch ihre Schläfen glänzten mehr als sonst. Na gut, er gab nach und schnupperte an ihrem Hals. Während des Spaziergangs hielt er ihre Hand fest, weil er spürte, dass sie jederzeit umsinken könnte. Man musste sich drängen und stoßen, es war ein richtiger Karneval, überall grinsende Fratzen, freudentrunkene Menschen.
Sie hatten gerade erst die nächste Ecke erreicht, als der Bursche vor ihnen stand. Adam war dreckig, seine Bekleidung hing in Fetzen herab, sein Gesicht war faltig, von Wunden und Narben bedeckt, und er starrte sie so verzweifelt an, dass sie nicht weitergehen konnten. Klara entzog Imre ihren Arm, und mit merkwürdiger Leichtigkeit, in der auch etwas Theatralisches lag, trat sie zu Adam und flüsterte ihm Trostworte ins Ohr. Vielleicht berührte sie ihn sogar? Imre konnte es nicht erkennen, geriet in Verwirrung, vielleicht war kein einziges Wort gefallen, weder Klara noch Adam hatten etwas gesagt, doch das Gesicht des Burschen wurde röter und röter, seine Hände begannen zu zittern, schließlich senkte er den Kopf. So ließen sie ihn zurück, als die Menge sie mit sich riss. Imre wurde von besinnungsloser Wut gepackt, er zischte seiner Frau ins Gesicht, wie ein Tier, dieser Bursche ist wie ein Tier! Hunde lieben auf diese Weise! Hunde wollen auf diese Weise! Sie schmiegen sich nicht an, sie gehen dir nicht unter die Hand, doch sie sind dir ständig auf den Fersen, und wenn du ihnen eine Brotrinde hinwirfst, springen sie!
Klara sah ihn nicht an, als sie sagte, er solle aufhören.
Womit?! Womit denn?!
Tut es dir leid, nicht an seiner Stelle zu sein? Ihr entfuhr ein Lachen.
An wessen Stelle?!
An der von dem Jungen!
Was soll ich daran bedauern, was?!, brüllte er, Blicke von Passanten trafen sie. Na sicher, Klara hatte recht. Denn es ist ja nicht so, dass man mit der Wahrheit etwas anfangen kann und muss. Manchmal ist die Wahrheit nicht nur überflüssig und unnütz, sondern sie hat auch gar keinen Sinn. Es hatte keinenSinn, dass ihn der Anblick des Burschen gereizt machte, und auch nicht, dass Klara Theater spielte. Es hatte keinen Sinn, sich vorzustellen, dass zwischen den beiden alles möglich war. Die Wahrheit seiner Eifersucht tat ihrer Sinnlosigkeit keinen Abbruch.
An jenem heißen Julitag 1849 befand er sich in der Stadt. Durch Doktor Schütz erhielt er die Nachricht, bei einem sterbenden serbischen Gefangenen seien Blumenzeichnungen gefunden worden, vielleicht habe er Interesse daran. Imre glaubte, irgendeine seltene Sammlung würde ihm in den Schoß fallen, doch unter dem Kissen des im Fieber murmelnden Serben lagen nur primitive Bleistiftzeichnungen einfacher Blumen, die Skizzen von Primeln, Kuhschellen und Glockenblumen, natürlich gab man ihm die volle Mappe. Es war um die Mittagszeit, von der Burgküche trug der Wind Essensgeruch heran, man kochte Bohnen. In der Unteren Stadt dröhnte eine Glocke. Ein Storch flog mit langsamen Flügelschlägen über die Burg hinweg. Als Imre den menschenleeren Hof betrat, erblickte er den Jungen. Zuerst hielt er inne, um dann entschlossen auf ihn zuzugehen. Rufe waren zu hören, in der Tiefe der Kasematten wurden Gefangene herumgestoßen, ihre Ketten klirrten, eine Eisentür knallte zu, jemand mochte gestürzt sein, die Schließer wieherten vor Lachen, einer der Serben bekam einen Tritt. Imre war bei Adam angekommen, der stellte den Eimer mit den Küchenabfällen hin, sein Gesicht war noch weißer als der Staub im Hof, unter seinen Augen zogen sich tiefe runzelige Gräben.
Wer hat gesagt, ich könne etwas für dich tun?!, fragte Imre.
Das hättest du nicht sagen sollen, erwiderte der Bursche regungslos.
Ich kann nichts für dich tun.
So etwas sollte man nie sagen, verzog Adam den Mund, er griff wieder nach dem Eimer, Imre starrte in die schmutzige Brühe. Sie schwiegen.
Pass auf dich auf, sagte er unbeholfen.
Auf mich
Weitere Kostenlose Bücher