Blumenfresser
Eperjes ging schnell verloren. Mit seinen ausgeruhten achttausend Mann wandte sich der General gegen Kaschau. Einen beträchtlichen Teil der südwestlichen Gebiete Ungarns nahm Feldzeugmeister Nugent mit einer Leichtigkeit ein, als würde er mit seinen Truppen an einem Jagdausflug teilnehmen.
Die Ungarn häuften Niederlage auf Niederlage, Offiziere und gemeine Soldaten desertierten aus der Revolutionsarmee. Oft bemerkten die Honveds beim Erwachen, dass das Lager ihres Gefährten leer war, im Schutz der Dunkelheit hatte er das Nötigste zusammengerafft, nicht selten auch sie, ihre Kameraden, bestohlen und sich davongemacht. Im Süden, in den Dörfern und Städten des Banats und der Batschka, war die Lage zum Zerreißen gespannt, die Familien hatten die Cholera noch nicht verkraftet, zudem war eine ungewöhnliche Kältewelle hereingebrochen. Alles war von Argwohn und mit Wut versetzter Angst vor Spitzeln durchtränkt. Es kam vor, dass die Patrouille nachts Passanten aufhängte, ohne sie auch nur nach dem Namen zu fragen, denn wer zu nächtlicher Stunde unterwegs war, konnte ja nur ein Spitzel sein.
Ein Fremder stand vor dem Rathaus von Szeged, das im Licht des Wintertages badete, und betrachtete die behelmten Türme und die gemeißelte Balustrade des Balkons. Seine andächtige Aufmerksamkeit war viel zu provokant, um unbemerkt zu bleiben. Jemand trat zu ihm und fragte ihn, was er beobachte, was er zähle, was er ausforsche, worauf der Mann ganz ruhig antwortete, dass er den Tauben auf den Simsen zusehe, wie sie ihr Gefieder putzten. Das heißt, er betrachte auch den Lichtfleck am Ansatz des Turmes und die Zeichnungen des Schmelzwassers an den Mauern, die Flecken, die Blüten des Raureifs, die Löcher im Verputz. Dann zuckte er die Achseln und verstummte.
In der Kälte dampfte die Atemluft blau.
Das dürfen Sie nicht anschauen, hören Sie?!, wies man ihn zurecht.
Warum nicht, fragte der Mann aufrichtig verwundert, warum bitte darf man keine Tauben betrachten?!
Man darf es nicht, wurde ihm gesagt.
Warum nicht?!
Man darf es nicht, schrien sie wütend, man darf nicht herumschnüffeln! Sie umringten ihn und warfen ihm Beleidigungen an den Kopf, während sich der Fremde bestürzt nach allen Seiten umwandte. Er sprach ungarisch, trotzdem verstanden sie ihn nicht. Er war einer von ihnen, trotzdem mussten sie ihn ausstoßen. Burgsoldaten legten ihm Ketten an und nahmen ihn mit, er war ihnen ähnlich und doch so fremd, dass sie ihn ins Gefängnis stecken mussten.
Als Wurzelmama Blatt einige Stunden später aus der Arrestzelle holte, zuckte er nur mit den Achseln.
Warum er denn keine Tauben betrachten darf, wenn er Lust dazu hat?!
Wurzelmama antwortete nicht, Wurm, der kichernd hinter ihr her trippelte, sagte, du darfst ja, aber nur aus dem Fenster der Gefängniszelle.
Szeged ist verloren, ist verloren!, krähte Wurm.
Österreicher und Serben werden Arm in Arm in unsere wunderschöne Stadt hineinspazieren!
Aber, aber, sei doch still!, protestierte Blatt, er hatte von den Aufsehern im Gefängnis interessante Dinge gehört. Nicht genug damit, dass die Stadt von der Cholera in Mitleidenschaft gezogen war und dass unter den Bürgern Zwietracht herrschte, oft stiftete auch Verwirrung, dass von den Kanzeln der Kirchen herab soviel Widersprüchliches gepredigt wurde. Antal Kremminger, der Pfarrer der Innenstadt, trat für den Frieden ein, in seinen Predigten geißelte er das Ideal der Revolution. Der Pfarrer von Rochus, Ferenc Nagy, wiederum fügte nicht nur Kossuths Namen in die Messe ein, sondern ließ sich auch Backen- und Schnurrbart wachsen. Als der Seelsorger zum ersten Mal stoppelbärtig und mit bereits sprießendem Schnurrbart auf der Kanzel der Kirche von Rókus erschien, dachten die Gläubigen noch an die Wandelbarkeit aller Dinge. Doch als das nächste Mal ein wirklicher Schnurrbart und ein stolz getragener Backenbart sich im Antlitz des Gottesmannes kräuselten, gab es keinen Zweifel mehr, dass der Pfarrer damit für die Revolution seines Vaterlandes demonstrierte. Was Gott zu alldem sagte, war nicht bekannt, jedenfalls liebten die Gläubigen ihren Pfarrer und fluchten heftig, wenn ihnen sein Kollege in der Innenstadt in den Sinn kam.
Ich finde, mit haarigem Angesicht ist der Pfarrer von Rochus ein schönerer Mann!, seufzte Wurzelmama, und dieses Lob konnte auch bedeuten, dass sie ihn demnächst besuchen würde.
Bald war Pest verloren, und die Revolutionsregierung gab auch große Teile des Südens auf. Die
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