Blumenfresser
gestürzt hatte und von der ihn niemand hatte abbringen können.
Hm, auch ihm gehe es so, antwortete Herr Schütz, wie seltsam, dass man ihn nicht vergessen kann.
Klara überlegte, Blumenfresser, das war der Titel, sagte sie.
Imre hatte davon gesprochen, dass die Pflanzen mit den Menschen in keiner Hinsicht etwas zu tun haben, denn an ihnen ist alles anders, als wir uns vorstellen können. Auch in der scheinbaren Unordnung ist ein Plan am Werk, der Atem stockt einem, wenn man nur die Flanke eines Hügels betrachtet. DerMensch glaubt, dass die Phantasie keine Grenzen habe, er denkt sich fliegende Apparate und selbstfahrende Maschinen aus und erschafft sie auch. Doch hätte die vermessene Phantasie auch das Schneeglöckchen auf dem Erdhaufen neben der Burgmauer erfinden können?! Der Frühling steht vor der Tür, dabei hat gestern noch Schnee die Stadt durchnässt. Jenseits der Mauern, bei den Mühlen und auf der Hexeninsel sind bereits die weißen Schneeglöckchen zu sehen. Was für eine Apparatur ist ein Schneeglöckchen?! Müsste man es erfinden, würden wir lebhafte Farben, kräftige Formen verwenden. Wir würden sagen, dass der Frühlingsbote, die erste Blume, die der Welt des Frosts entsteigt, ein fürstliches Wesen sei! Doch das Schneeglöckchen ist ein bescheidenes Geschöpf! Wenn gegen Ende des Winters Regenfälle einsetzen, werden einige aus der Erde gewaschen, sie gehen zugrunde, doch ihre Gefährten leben weiter. Frühlings-Fingerkraut, das Leberblümchen mit seinen rosa Sternchen, Primel, Blaustern, Weißwurz, Seidelbast und Lungenkraut, sie alle folgen dem Schneeglöckchen. Warum blühen sie so früh?! Weil sie den Bäumen zuvorkommen müssen! Wenn die Blätter der Bäume sich entrollen und dichte Laubkronen bilden, wird es unten dämmrig. Es gibt Pflanzen, die müssen sich beeilen, wenn sie leben wollen, sie sind die Revolutionäre der Natur. Sie kommen früh und gehen früh, ihr Leben ist ephemer. Doch in der Natur gibt es keinen Mangel, die Natur gleicht einem gewaltigen Mosaik!
Und er wollte es zusammenfügen?!, rief Herr Schütz wütend, als hätte ihn Klara so geärgert. Meiner Erinnerung nach hat Ihr Mann nur von einer einzigen Pflanze gesprochen!, beharrte er.
Klara starrte den Alten überrascht an, sie verstand nicht, warum er so gereizt war.
Ja, hat er denn nicht von der Wehrlosen Trespe gesprochen?! Von der da − Herr Schütz kramte in seiner Tasche und zog einen Halm heraus, hartes, anspruchsloses Gras. Mit so einem Grashalm kann man sich in den Finger schneiden. Mit so einem Grashalm kann man einen Hals abschneiden. Mit so einem Grashalm kann man Musik machen, flechten und liebkosen!
Der Alte stand zusammengekrümmt im Wagen, er brüllte.
Es war ein einziger Halm, ein einziger!
Klara schüttelte erschrocken den Kopf, offenbar schrie er sie auch jetzt nicht ohne Absicht an, er wollte sie zu etwas bringen. Ein einziger Grashalm?! Nein, nein, einen Grashalm für sich allein gibt es nicht!
Plötzlich begann der Wagen zu holpern, sie rollten über Buckel und Steine, fuhren bereits durch die Außenbezirke von Wien, zwischen Bauernhäusern mit großen Toren, Gärten und schlanken Kirchen. Dann kam die Donau in den Blick, am Ufer gegenüber reihten sich weiße Häuschen aneinander. Die Welt wuchs, Bäume und Gebäude wurden größer, plötzlich fanden sie sich zwischen Einspännern und Fiakern in einem irren Verkehr wieder und hielten bald darauf vor dem Hotel National. Im Herzen der Leopoldstadt hatte es erst vor kurzem seine Tore geöffnet, nicht weit vom Hafen entfernt, wo mächtige Dampfer und Schlepper schaukelten und Matrosen sich tummelten wie blaurückige Käfer. Dort waren die Molen und Liegeplätze größer als im Hafen von Pest, Unmengen von Eisen und Holz waren aufgehäuft, Klara bestaunte einen schwindelerregend hoch aufgetürmten Kistenberg, ein Wunder, dass er nicht umstürzte. Im Schatten der Kastanienallee neben der Promenade warteten lackierte Mietdroschken. Ein Zug pfiff, der Wind blies ihnen weiße Rauchschwaden zu, ein paar Ecken vom Hafen entfernt befand sich ein Bahnhof.
Die vier Stockwerke des Hotel National ragten wie ein Berg vor ihnen auf, an seiner Seite gähnte ein Tor, in das auch die größten Lieferwagen hineinpassten. Diener mit Zylinder standen beim Eingang in Reih und Glied, ein Bürschchen stellte Ledertaschen in eine Reihe und pfiff den Kutschern. Herr Schütz empfahl nebeneinanderliegende Zimmer im vierten Stock, was Klara verwunderte, eine solche
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