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Blut & Barolo

Titel: Blut & Barolo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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viel Zeit verging, Niccolò hatte kein Gefühl dafür. Irgendwann verkrochen sie sich noch tiefer in den Schlossflügel, dorthin, wo die Wände noch einen letzten Rest Wärme gespeichert hatten. Doch sie behielten die Tür immer im Auge. Dann stand plötzlich der freundliche Mann mit dem Bart im Türrahmen, die Wangen rot von der Kälte, und kniete sich vor sie. Er sprach langsam und mit sonorer Stimme, ließ sie erst an seinen Händen riechen, bevor er sie streichelte und Leckerlis aus seiner Manteltasche holte. Sie waren so verzweifelt, dass sie ihm auf Anhieb vertrauten, sich sogar Leinen anlegen ließen und in den Kofferraum seines Kombis sprangen.
    Und schließlich landeten sie hier. Wo es nach Hund roch – doch kein einziger zu sehen war.
    Genauer gesagt roch es nach einem großen Rüden.
    »Schnupperst du das auch? Ein Riesenschnauzer, oder?«, fragte Niccolò. Canini strolchte im Zimmer herum, jede Ecke beschniefend. Sie sprang auf das Fenstersims – und begann zu zittern.
    »Komm bloß nicht hier hoch!«
    »Wieso?«
    »Komm einfach nicht hoch.«
    »Und warum springst du nicht wieder runter?«
    Canini antwortete nicht, ihr Körper war vor Schreck erstarrt. Erst als Niccolò sich mit den Vorderläufen ans Sims lehnte, um sie besser anstupsen zu können, stürzte sie panisch herunter. »Wie grauenvoll!«, brachte sie stockend hervor. »Vergiss das Fenster, versprochen?«
    »Was soll ich da auch? Ich will hier nur raus, zu Isabella.«
    Er ging zur Tür und kratzte daran. Zuerst passierte nichts, dann hörte er ein anderes Kratzen, weit entfernt. Wie eineAntwort. Ein Jaulen drang wie von selbst aus Niccolòs Hals. Ein fremder Hund tat es ihm gleich. Doch dann rief eine Stimme, und das Haus verstummte wieder.
    »Das ist alles Giacomos Schuld!«, rief Canini, deren Verzweiflung in Wut umgeschlagen war. »Er hat diese komische Tischdecke angeschleppt. Vorher war alles in bester Ordnung!«
    Niccolò trat zu ihr und blickte tief in ihre großen Spanielaugen. »Du machst es dir verdammt einfach. Es ist das Tuch selbst, das an dem ganzen Ärger Schuld hat, nicht unser Giacomo . «
    »Du willst nur diesen alten Muffkopf von Lagotto in Schutz nehmen!«
    Es wurde Niccolò zu blöde. Nur um Canini zu ärgern, sprang er auf das Fenstersims.
    Dort stockte ihm der Atem.
    War er in den Wolken?
    Er rückte noch einen Schritt näher ans Glas, traute sich jedoch nicht, es zu berühren. Es mochte zerspringen und ihn hinunterreißen in die Tiefe. Unter sich sah Niccolò den Abgrund, über ihm schloss direkt der Himmel an. Es war ein Haus, das wie ein riesiger Baumstamm in den Himmel ragte. Es mussten mehr Menschen in diesem einen Gebäude leben als in ganz Rimella. Und es war nicht das einzige seiner Art. Die Stadt erstreckte sich bis zu den Bergen. Häuser, Kirchen und Straßen schienen jeden Flecken zu bedecken. Wo hatten die Menschen nur so viele Steine her? Und wieso lebten sie hier so dichtgedrängt, wo in der Langhe, bei den Haselnusssträuchern, Pappeln und Rebstöcken, den Wäldern und wilden Wiesen doch noch Platz war? Durch den Schnee sah Turin aus wie eine Ansammlung weißer Steine, die in einem ausgetrockneten Flussbett lagen. Er würde hindurchfließen müssen, rasend wie Wasser, um Isabella zu finden. Und zu retten.
    Selbst wenn er dafür in jedes einzelne Gebäude müsste. Seine Beine waren doch schnell!
    »Irgendwo da draußen ... «
    »Wir werden sie niemals finden. Gib es zu.«
    Niccolò schwieg, denn Canini hatte recht. Selbst wenn er ein Dutzend Leben hätte, die Zeit würde nicht reichen. Es waren einfach zu viele Häuser, viel zu viele.
    Doch da kam ihm eine Idee. Canini wusste gleich, was er dachte, als er zu ihr hinüberblickte.
    »Selbst Giacomo und seine Nase könnten uns jetzt nicht helfen. Das ist Turin, eine Stadt . Ich kenne sie, hier bin ich geboren. Mein Zwinger liegt nahe dem Lingotto, alle meine Wurfgeschwister leben hier, und Isabella hatte früher eine Wohnung am Po. Es gibt hier massenhaft Menschen. Und sie alle ... riechen.«
    Niccolò schaute wieder hinunter auf die Straßen, sah das Gewusel von Autos, Lastern, Zweirädern und Menschen. Doch er sah noch mehr. Niccolò erkannte Leinen, und am Ende dieser: Artgenossen!
    »Und wo es viele Menschen gibt, da gibt es auch viele Hunde!«
    Er ging näher ans Fenster, presste seine Schnauze gegen die kalte Scheibe. Seine Beine schwankten, doch der Blick war fest.
    »Wir werden die Hunde Turins fragen«, sagte das junge Windspiel. »Es ist ihre Stadt,

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