Blut & Barolo
Verzweiflung über den Verlust des Tuches, alle Wut auf seine eigene Meute und vor allem auf sich selbst trieb den Pharaonenhund in eine Raserei, die ihn aller klaren Gedanken beraubte. Tommaso wurde für ihn der Ursprung allen Übels. Ihn galt es zu vernichten. Seine Bisse trafen die Bulldogge wie tausend Nadelstiche, Amadeus schien überall zu sein, eine Gewitterwolke, die ihn einschloss und unablässigBlitze herabsandte. Als er den Nacken des Feindes zwischen seinen Zähnen spürte, hielt er inne, setzte nicht den entscheidenden Biss. Doch er war nur einen Hauch davon entfernt. Sein ganzer Leib vibrierte vor Hass. Aber plötzlich begriff er, dass ihn der Tod der Bulldogge kein Stück weiterbringen würde, dass Tommaso lebend weit wertvoller war als tot.
»Du wirst mir helfen, verfluchte Bulldogge. Ansonsten reiße ich dich hier und jetzt in Stücke. Dann verteile ich deine Eingeweide auf der Piazza und rufe alle Straßenköter Turins herbei. Und du wirst zu Fressen!«
Tommaso hatte sich niemals vorgestellt, selbst einmal Opfer zu sein. In seinem Leben war er es immer gewesen, der andere fraß. Doch nun war da dieser junge, aufgebrachte Pharaonenhund, mit einer Wut in den Augen, die Tommaso niemals zuvor gesehen hatte. Einer Wut, die Amadeus vollkommen verschlungen zu haben schien. Er war viel schneller und kräftiger, als er es mit seinen dünnen Muskeln und dürren langen Beinchen sein durfte. Etwas stimmte nicht mit diesem Amadeus.
Das jagte dem massigen Hund eine verdammte Angst ein.
Tommaso begann zu winseln. Doch seine Stimmbänder vermochten es nicht so recht, denn noch nie war es nötig gewesen. So drang nur ein jämmerliches Krächzen aus seiner Kehle.
Amadeus lockerte den Biss. Ein wenig Blut lief in das kurze Fell der Bulldogge.
»Tommaso wird dir etwas zeigen. Damit Amadeus weiß, wer das Sindone geraubt hat. Tommaso ist folgsam. Auf Tommaso ist Verlass.«
Den Kopf gesenkt, lief die Bulldogge voran. Wieder knurrte sein Magen, doch Tommaso hatte nun einen neuen Herrn. Er war nicht länger der Sklave seines Bauches.
Kapitel 3
CONTE ROSSO
A ls die Zimmertür aufging, sah Niccolò als Erstes ein sanftes Lächeln. Es gehörte zu dem Mann, der sie hergebracht hatte. Große Augen hatte er, wie die einer Schleiereule, und seine Augenbrauen waren buschig wie Schmetterlingsraupen. Nach ihm trat eine Frau in den Raum. Sie trug kein Jeanshemd wie der Mann, sondern ein enganliegendes goldenes Kleid, das Niccolò an die Pelle einer teuren Wurst erinnerte, die blonden Locken fielen wie Fussili über ihren Kopf – und sie war schwarz, ihre Haut wie Nussholz. Die meisten Menschen sahen für Niccolò gleich aus, denn sie hatten nicht diese wunderbaren Variationen der Ohren- und Schnauzenform, der Länge des Schwanzes und des Körpers, nicht einmal Muster im spärlichen Fell. Sie waren so langweilig und versuchten dies durch ihre Kleidung zu kaschieren. Natürlich auch, weil die Natur ihnen nicht genug Haare gegeben hatte und sie sonst ständig frieren würden. Aber hier in Turin gab es anscheinend auch bei den Menschen eine gewisse Vielfalt. Er trat neugierig auf die Frau zu. Wie mochte sie duften?
Doch der Mann kniete sich auf den Boden und streckte ihm die Handinnenflächen hin, damit Niccolò ihn beschnuppern konnte. Er roch nach Seife, doch nicht zu parfümiert, und nach Hund, einem glücklichen Hund, sowie nach Fleisch, Pansen, frisch gekocht. Köstlich!
»Willkommen, kleiner Niccolò«, sagte der Mann. »Ich heiße Mario.« Er sprach seinen Namen langsam und deutlichaus. »Deine Isabella arbeitet für mich, und sie hat mir schon viel von dir erzählt. Deshalb bin ich gleich nach Stupinigi gefahren, als ich erfuhr, dass ihr dort womöglich allein wäret. Du warst ganz verwirrt, das wäre wohl jedem so gegangen. Das ist meine Frau Saada, und dies ist Rory.«
Ein riesenhafter Scottish Deerhound lief an den glitzernden Absätzen der Frau vorbei und beschnüffelte ihn und die Spanielhündin skeptisch. Sein Fell war drahtig und dicht, von einem dunklen Blaugrau.
»Und, könnt ihr euch riechen?« Mario lachte. »Ich hab was für dich, Niccolò«, er griff hinter sich. »Und natürlich auch für dich, Canini.« Es war eine Tüte mit Kleidung. Ein dicker Rollkragenpullover, eine Jeans, auch ein paar Schuhe. Stoffe mit Erinnerung. Alle von Isabella. Sie formte sich aus den Düften, stand plötzlich bei ihnen im Raum und streichelte Niccolò zärtlich an den Ohrenspitzen, wie nur sie es
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