Blut & Barolo
konnte. Sie duftete nach frischer Luft, das tat sie selbst, wenn sie den ganzen Tag am Schreibtisch hockte. Isabella musste die Luft von draußen angesammelt haben. Schlief Niccolò in ihrem Schoß, träumte er immer davon, eine Taube in einem Apfelbaum zu sein.
Obwohl er die eigentlich nicht besonders mochte.
»Gleich führe ich euch in eurem neuen Quartier herum. Isabella lässt übrigens schön grüßen und ist hoffentlich bald wieder da.« Als die dunkle Frau die Tür öffnete und nickte, stand er auf. »Fühlt euch wie zu Hause. Dieses Zimmer hier ist nur für euch. Aber ihr dürft euch natürlich in der ganzen Wohnung aufhalten. Wenn ihr wollt, könnt ihr nachts auch bei uns im Bett schlafen.«
Nur zögerlich trat Niccolò durch die Tür, Canini folgte dicht dahinter, obwohl sein schlanker Körper kaum Schutz vor Gefahren bot. Der angrenzende Raum war groß – und voll mit Wesen, die Niccolò zurückweichen ließen. Sie starrtenihn aus Bildern mit glänzenden Rahmen an, sie hingen an Schnüren von der Decke, sie standen drohend auf dem Schrank, und zwei bewachten die gegenüberliegende Tür. Sie alle hatten die Gesichter von Tieren, manche auch deren Körper, doch vieles passte nicht zusammen. Der Kopf des Schakals saß auf einem schlanken Menschenkörper, ein Adlerschädel krönte den Rumpf eines Pferdes. Ein Widder, ein Hirsch und ein Bär hatten anscheinend versucht, von außen durch die Wand zu rennen und es nur bis zum Hals geschafft. Warum hatte ihnen niemand geholfen? Und warum rochen sie muffig statt verwesend?
Am unheimlichsten waren die toten Augen.
Nichts bewegte sich.
Und keines der Tiere roch nach ... Tier. Niccolò kannte Bilder, doch Skulpturen hatte er niemals zuvor gesehen. Rory lief völlig unbekümmert an ihnen vorbei, sein Schwanz streifte sie sogar beim Wedeln.
»Was ist das hier?«, flüsterte Canini hinter ihm. »Schlachten sie die Tiere und setzen sie dann wieder neu zusammen?«
»Die beiden sehen nicht aus wie Metzger. Es riecht auch nicht nach Blut.«
»Vielleicht sehen einige Metzger anders aus. Bleib bitte nah bei mir.«
Ihre Stimme zitterte leicht, und Niccolò fand, dass es nun an der Zeit war, mutig zu sein.
»Also ich mag die beiden Menschen, und diese Zimmer sind auch schön. Die anderen Tiere tun uns nichts. Eigentlich fühlt es sich nett an, als hätte man Gesellschaft. Du kannst dich ja wieder in das kleine Zimmer verkriechen. Ich erkunde jetzt alles.« Erhobenen Hauptes lief er dem Scottish Deerhound nach.
Der würde sich sicher nicht in Gefahr begeben. Insgesamt gab es noch drei weitere Zimmer. Sie warenvollgestellt mit Möbeln, die allerlei Schnörkel aufwiesen und verziert waren wie Hochzeitstorten. Sie standen allesamt vor gemusterten Wänden, keine einzige war weiß. Die Deckenlampen ähnelten Segeln, und überall standen diese merkwürdigen Tiere. Zum Glück ließen die Menschen Canini und ihm Zeit, sich umzuschauen. Sie selbst setzten sich an einen großen Tisch und aßen. Dann stellte Mario einen Teller auf den Boden – gefüllt mit Agnolotti. Niccolò roch gleich, dass die kleinen Ravioli mit Fleisch sowie frischen Kräutern gefüllt waren und mit geschmolzener Butter serviert wurden. Ein echtes Festessen!
»Für euch. Ihr könnt natürlich auch was vom Pansen haben. Was euch lieber ist.« Rory wollte sich auf die Agnolotti stürzen, doch Mario hielt ihn zurück. »Das ist für unsere Neuankömmlinge. Damit sie sich hier wohl fühlen.«
Schnell war der Teller leer, und auch der Nachschlag bekam kaum Gelegenheit, es sich auf dem Porzellan bequem zu machen. Doch obwohl die Pasta köstlich schmeckte, lugte Niccolò immer häufiger zu einem ganz besonderen Gegenstand im Wohnzimmer. Es war das verfluchte Tuch, mit dem ihr ganzes Unglück erst begonnen hatte. Es hing an der Wand. Nur kleiner. Als sei es eingelaufen, wie Isabellas Wäsche manchmal. Niccolò erkannte die Löcher und Flecken, den langhaarigen Mann, die Hände auf dem Schoß gefaltet.
Mario schien seinen Blick zu bemerken, und auch seine Frau, die nun ein Kreuz vor ihrer Brust schlug und sich leicht verbeugte.
»Eine gute Kopie, oder? Halbe Größe. Was du siehst, ist Jesus, unser Herr. Der Sohn Gottes.«
Niccolò verstand nur wenige Menschenwörter, vor allem, wenn Fremde sie aussprachen. Doch die Bedeutung dieses besonderen Wortes begriff er instinktiv. ›Gott‹. Der Mann hatte es gesagt, als sei es unglaublich wertvoll, als trage esein Licht in sich. Isabella hatte es nie benutzt, und
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