Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
das steht fest«, räumt er ein, und ich merke ihm an, dass er sich elend fühlt. »Ich warte förmlich auf irgendeine unbekannte Horrorseuche, die unsere Kräfte überfordert. Chemikalien und Krankheiten als Waffen einzusetzen! Da können die da oben noch so kluge Reden schwingen. Niemand ist auf eine so gewaltige Anzahl ansteckender oder verseuchter Leichen vorbereitet.«
»Die Technologie kann nicht richten, was sie zuvor zerstört hat. Wenn wirklich der schlimmstmögliche Fall eintreten sollte, werden wir große Probleme bekommen«, stimme ich zu.
»Und das sagen sogar Sie mit Ihrem topmodern ausgestatteten Institut. Aber es ist nun mal eine Tatsache, dass gegen die Natur des Menschen kein Kraut gewachsen ist«, stellt er fest. »In der Frage, was Menschen einander inzwischen antun können, kriegt man den Geist nicht mehr zurück in die verdammte Flasche.«
»Der Geist war nie in der Flasche, Colin. Ich bin nicht einmal sicher, ob überhaupt eine Flasche existiert.«
Auf dem Weg vorbei an der offenen Tür des Röntgenraums erhasche ich einen Blick auf einen Fluoreszenzschirm mit einem C-förmigen Schwenkarm, den ich mittlerweile nicht mehr benutze. Allerdings würde uns die neueste Technik wie Computertomographie oder Magnettomographie mit 3-DSoftware, selbst wenn sie uns zur Verfügung stünde, hier auch nicht weiterbringen. Ganz gleich, woran Kathleen Lawler auch gestorben sein mag, ein CT, ein MRI oder eine andere bildgebende Methode würde den Grund wahrscheinlich nicht sichtbar machen. Ich hoffe, dass Sammy Chang schon damit angefangen hat, Unterlagen und Proben an die verschiedenen Labors zu verteilen.
Im Autopsiesaal ist ein muskulöser, mit einem fleckigen OPAnzug und einer blutigen Plastikschürze bekleideter junger Mann damit beschäftigt, eine Leiche zuzunähen. Wie ich annehme, handelt es sich um das Opfer des Verkehrsunfalls von heute Morgen. Der Kopf ist verformt wie eine zerdrücke Blechdose, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die blutige Haut bildet einen starken Kontrast zu dem sterilen kalten Beton und dem schimmernden Metall, wie sie für Leichenhallen typisch sind.
Das Alter des Opfers kann ich nicht schätzen. Doch das Haar des Mannes ist pechschwarz, und er ist schlank und gut ge- baut, als sei ihm seine körperliche Fitness sehr wichtig gewesen. Die ersten Anzeichen für den Zerfall von Blut und Zellen, von menschlicher Substanz, die sich der Verwesung ergibt, steigen mir in die Nase. Bei jedem Stich mit weißem Garn blitzt die lange OP-Nadel auf. Wasser tropft stetig in ein Stahlbecken. Am anderen Ende des Raums liegt Kathleen Lawler, die Umrisse eines Körpers in einem weißen Leichensack, auf einer Bahre.
»Wissen wir, warum wir ihn obduziert haben, anstatt nur eine Leichenschau durchzuführen?«, fragt Colin den Assistenten, der eine Bulldogge, das Emblem des Marine Corps, seitlich am Hals eintätowiert trägt und einen Bürstenhaarschnitt hat. »Von seinem Kopf ist ja nicht mehr viel übrig. Es sieht beinahe so aus, als wäre er mit einer Schrotflinte in Konflikt geraten. Eine Leichenschau hätte doch sicher genügt. Wie genau lauteten die Zweifel bei diesem Verkehrsunfall, der nun Georgias Steuerzahler Geld kostet?«
»Ob er einen Herzinfarkt hatte und deshalb während der Hauptverkehrszeit in den Gegenverkehr hineingerast ist.« Er näht mit großen Stichen und erzeugt dabei ein Y-förmiges Muster, das vom Brustbein bis zum Becken reicht. »Er war letzte Woche wegen Schmerzen in der Brust im Krankenhaus.«
»Und welche Schlüsse haben wir gezogen?«
»Hey, ich ziehe keine Schlüsse. Dazu verdiene ich nicht gut genug.«
»Hier verdient keiner genug«, erwidert Colin.
»Der Laster hat ihn plattgewalzt, und er ist an Herzversagen gestorben, weil sein Herz schlappgemacht hat.«
»Was ist mit Atemstillstand? George, ich glaube, Dr. Scarpetta kennen Sie noch nicht.« Colins Miene ist finster.
»Ja, zu atmen aufgehört hat er eindeutig. Nett, Sie kennenzulernen. Ich ärgere ihn nur ein bisschen. Sonst wird er größenwahnsinnig. « George zwinkert mir zu und näht weiter. »Wie oft predigen Sie den Medizinstudenten, die hier Praktikum machen, dass Herz- und Atemstillstand keine Todesursachen sind?« Er ahmt seinen Chef nach. »Wenn zehnmal auf einen geschossen wird, setzen zwar Atmung und Herz aus, aber das war es nicht, was einen umgebracht hat«, zieht er Colin auf. Doch der lacht nicht, ja er schmunzelt nicht einmal.
»Ich bin hier gleich fertig«, fügt
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