Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
George, ein wenig ernster, hinzu. »Brauchen Sie mich beim nächsten Kunden?«
Er durchtrennt den dicken Zwirn mit der scharfen, gebogenen Spitze einer langen Nadel und bohrt sie in einen Styroporklotz.
»Wenn nicht, würde ich nämlich gern die Materiallieferung von heute Morgen wegräumen. Außerdem möchte ich die Anlieferungszone ordentlich mit dem Hochdruckreiniger sauber machen. Für die Gläser mit den Proben müssen wir uns auch bald etwas einfallen lassen. Ich erinnere Sie nur ungern ständig daran. Aber wir wollen doch nicht, dass die dämlichen Regale zusammenbrechen und Formalin, Scherben und Körperteile überall herumspritzen«, meint er zu mir.
»Sie kennen ja mein Verhältnis zum Ausmisten. Warten Sie noch eine Weile. Dr. Scarpetta und ich fangen an und schauen, wie es läuft.« Colins Miene ist hart, und ich erkenne an seinen Augen, was in ihm vorgeht.
Er fragt sich, ob er etwas übersehen hat, und stellt sich die Frage, die jeder, der sich mit den Toten beschäftigt, fürchtet. Wenn wir eine Fehldiagnose stellen, könnte noch jemand zu Tode kommen. War es eine Kohlenmonoxidvergiftung oder ein Mord? Indem wir das herausfinden, können wir vielleicht verhindern, dass sich solch eine Tat wiederholt.
»Haben Sie die Proben aus diesen alten Fällen noch?«, erkundige ich mich nach Barrie Lou Rivers, Shania Plames und Rea Abernathy.
»Den Mageninhalt habe ich leider nicht aufbewahrt. Ich hätte ihn einfrieren sollen. Jetzt könnte ich mich ohrfeigen.«
Wir gehen über einen mit hellbraunem Kunstharzlack versiegelten Boden, auf dem drei weitere auf Sockeln montierte Tische stehen. Über den daran befestigten Waschbecken hängen beleuchtete Dunstabzugshauben. Neben jedem Tisch parkt ein Rollwagen mit ordentlich aufgereihten Instrumenten, Asservatenröhrchen und Behältern, einem Schneidebrett, einer Stichsäge, die mit einer Steckerleiste über dem Tisch verbunden ist, und einem leuchtend roten Behälter mit Nadeln. An den Wänden hängen Schränke, Leuchtkästen und Geräte zur Reinigung der Luft. Außerdem gibt es noch Trockenschränke für Beweisstücke und Arbeitsplatten und Klappstühle aus Metall, falls ein Formular ausgefüllt werden muss.
»Ich habe hier zwar nichts zu sagen, aber bei mir steht die Frage ganz oben auf der Liste, mit welchen Substanzen sie in Kontakt gekommen sein könnte«, meine ich zu Colin. »Eine grauweiße kalkige Masse, die nach durchgeschmorter Elektroisolation roch. Es wäre sehr hilfreich, den Rückstand in ihrem Waschbecken so schnell wie möglich analysieren zu lassen. Das Zeug roch eindeutig nicht wie etwas, das in ihre Zelle gehört. Sie haben doch sicher den nötigen Einfluss, um das zu veranlassen.«
»Sammy hat genug Einfluss für uns beide. Außerdem freuen sich die Leute in den kriminaltechnischen Labors über jede Herausforderung. Heutzutage dreht sich ja alles nur noch um die gottverdammte DNA, auch wenn sie nicht immer des Rätsels Lösung ist. Aber erzählen Sie das mal den Staatsanwälten und vor allem der Polizei. Ich vermute, dass unsere Kriminaltechniker sich sofort an die Arbeit machen werden. Ich selbst habe zwar nichts gerochen, vertraue Ihrer Sensorik aber vollkommen. Spontan fällt mir allerdings kein Gift ein, das wie eine durchgeschmorte Elektroisolation riecht.«
»Was war es dann?«, hake ich nach. »Was hat sie da in die Finger bekommen und wie? Schließlich hat sie im Hochsicherheitsbereich von Haus Bravo nicht die Möglichkeit, die allgemeinen Aufenthaltsräume zu betreten, sich unter die anderen Gefangenen zu mischen und sich verbotene Gegenstände zu beschaffen.«
»Also lautet unsere erste Frage, wer Zugang zu ihrer Zelle hatte. Das beschäftigt mich immer, wenn jemand in Haft stirbt. Auch unter auf den ersten Blick völlig normalen Umständen, und mit denen haben wir es hier eindeutig nicht zu tun«, entgegnet er. »So viel steht inzwischen fest.«
24
Auf einer Ablage stehen Kartons mit Handschuhen unterschiedlicher Größe. Während ich für jeden von uns ein Paar hole, öffnet Colin den Leichensack. Plastik raschelt, als er den Reißverschluss bis ganz unten aufzieht. Ich helfe ihm, Kathleen Lawler auf den Stahltisch zu legen. Dann geht er zu den Behältern an der Wand, sammelt Formulare ein und befestigt sie an einem Klemmbrett. Unterdessen entferne ich die Gummibänder an Handgelenken und Knöcheln der Toten und die braunen Papiertüten, mit denen ich die Hände und den linken Fuß geschützt habe, falte sie zusammen und
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