Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
sie ermordet wurde, war der Täter doch sicher schlau genug, um zu wissen, dass sie früher oder später hier landet und wir feststellen können, was es zu essen gab.« Er notiert das Gewicht auf seinem Klemmbrett.
»Nicht jeder ist so umsichtig. Außerdem hat sie ja offenbar heute Morgen zwischen halb sechs und sechs gegessen, wenn in Haus Bravo das Frühstück verteilt wird.« Ich beschrifte einen Karton für die Toxikologie. »Sicher hat der Täter angenommen, dass sie die Mahlzeit bis zu ihrem Tod verdaut haben würde, was normalerweise ja auch geschehen wäre.«
»Sie leidet an einer leichten Verengung, ein kleines Ödem.« Er zerteilt einen Lungenflügel. »Vergrößerung der alveolaren Kapillargefäße, rosige, schaumige Flüssigkeit in den Lungenbläschen. Typisch für akuten Atemstillstand.«
»Und auch bei Herzversagen. Ihr Herz ist erstaunlich gut.« Ich fange an, es auf dem großen Schneidebrett zu sezieren. »Ein wenig blass. Keine Vernarbungen. Die Gefäße zum Großteil unbeschädigt. Klappen, Sehnenfäden, Papillarmuskeln ohne Befund«, diktiere ich. »Die Dicke der Kammerwand sowie der Durchmesser der Kammern liegen im Rahmen. Große Ausgangsgefäße zum Großteil durchgängig. Keine krankhafte Veränderung des Myocardiums.«
»Das hätte ich nicht gedacht.« Wieder wischt Colin sich die Hände ab und schreibt es auf. »Also kein Infarkt. Offenbar führen alle Wege in die Toxikologie.«
»Ich sehe hier auch nicht den kleinsten Hinweis auf einen Infarkt. Sie können ja noch einen Blick auf die histologischen Befunde werfen. Wegen der Theorie, dass sich die Myozyten nach einem myocardialen Infarkt teilen. Aber ich bin normalerweise skeptisch, wenn ich keine anatomischen Anzeichen entdecken kann. Und da sind keine. Die Aorta ist minimal von Arteriosklerose betroffen.« Ich blicke auf, als sich die Türen zum Autopsiesaal öffnen. »Nichts, aber auch gar nichts deutet meiner Ansicht nach darauf hin, dass sie an einer Herzkrankheit gestorben ist.« George kommt herein, und ich höre vertraute Stimmen.
Sofort erkenne ich Bentons weichen Bariton, und meine Laune hebt sich, als ich ihn, in zerknitterter Cargohose, grünem Polohemd, schlank und attraktiv, vor mir sehe. Sein silbergraues Haar ist zurückgestrichen und vermutlich nach der Fahrt in einem Transporter ohne Klimaanlage schweißnass. Es spielt keine Rolle, dass wir uns in einem sterilen Autopsiesaal befinden, wo es nach Tod riecht, dass mein weißer Kittel und meine Handschuhe voller Blut sind, dass Kathleen Lawlers Leiche aufgeschnitten daliegt und dass sich ihre sezierten Organe in einem Eimer unter dem Tisch befinden.
Ich bin glücklich, dass Benton hier ist. Allerdings möchte ich ihn jetzt nicht in meiner Nähe haben, und der Grund dafür ist nicht, dass wir gerade in einem Autopsiesaal und mit einer Obduktion beschäftigt sind. Im nächsten Moment erscheint Lucy, schlank und düster, in einem schwarzen Pilotenoverall. Das rotbraune Haar fällt ihr offen über die Schultern und schimmert im Licht der Deckenbeleuchtung rosig. Die beiden verharren am anderen Ende des Raums.
»Ihr müsst da drüben bleiben«, weise ich sie dennoch an. Ich erkenne an Bentons Art, dass etwas nicht stimmt. Offenbar ist etwas Schlimmes geschehen.
»Dawn Kincaid ist ins Koma gefallen«, sagt er. »Ich bin nach der Landung verständigt worden. Es heißt, sie sei gehirntot, man sei aber noch nicht vollständig sicher. Sie habe sich am Abend zuvor unwohl gefühlt und über ihr unverständliche Mattigkeit geklagt. Und heute Morgen wurde sie leblos aufgefunden.« Er spricht laut, damit Colin und ich ihn verstehen können.
Ich denke an Jaime Bergers Gesicht gestern Abend, kurz bevor ich ihre Wohnung verlassen habe. Sie wirkte schläfrig, und ihre Pupillen waren geweitet.
»Allem Anschein nach war ihr Gehirn zu lange ohne Sauerstoff «, fährt Benton fort, und ich höre Jaimes Stimme, als ich mich gegen eins von ihr verabschiedet habe. Sie hat mit schwerer Zunge gesprochen, ja, gelallt. »Als sie in ihre Zelle kamen, hatte sie schon aufgehört zu atmen. Man konnte sie zwar wiederbeleben, aber sie hat das Bewusstsein nicht mehr erlangt.«
Ich erinnere mich an die Sushi-Tüte, die ich hinauf in die Wohnung getragen habe. Eine fremde Frau hat sie mir überreicht, und ich habe sie ohne zu überlegen angenommen.
»Ich dachte, es hätte sich um einen Asthmaanfall gehandelt …«, setze ich an.
»Anfangs hat man nicht alle Informationen herausgegeben, und auch jetzt
Weitere Kostenlose Bücher