Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
gewalttätigen Angriff mit einem Messer abzuwehren, dessen eigenartiges Heft parallele Blutergüsse auf seiner Haut hinterlassen hat. Seine Frau liegt auf der rechten Seite. Die Hände unter dem Kinn, kehrt sie ihrem Mann den Rücken zu und ist dem Fenster zugewandt, das einen Blick auf die Straße vor dem Haus und den Friedhof gegenüber bietet. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie nicht so gestorben ist. Ihre Leiche wurde arrangiert, und zwar so, dass sie beinahe fromm aussieht. So als würde sie beten. Dennoch ist ihr Nachthemd über die Hüften hochgeschoben, und ihre Brüste sind entblößt.
Ich greife nach dem Flanellnachthemd, langärmelig, geknöpfter Ausschnitt und Spitzenkragen. Es passt zu der zurückhaltend und ernst wirkenden Frau auf dem Weihnachtsporträt. Einen knappen Monat später ist sie wieder fotografiert worden, diesmal in jener vulgären Pose auf ihrem blutdurchtränkten Bett. Flöckchen getrockneten Bluts rieseln auf das weiße Papier, mit dem der Tisch abgedeckt ist, als ich jedes Loch und jeden Schlitz unter die Lupe nehme. Die Klinge hat sie insgesamt siebenundzwanzigmal getroffen, im Gesicht, am Kopf, an der Brust, am Rücken, am Hals. Und zu guter Letzt ist ihr auch noch die Kehle durchgeschnitten worden. Das Nachthemd ist hinten und vorn so mit Blut durchtränkt, dass man das blaue Blumenmuster nur noch an Ärmeln und Saum ausmachen kann.
Ich nehme Mandy O’Tooles Gegenwart deutlich wahr. Sie hat sich einen Sessel ans Fenster gerückt, um mir nicht im Weg zu sein. Als ich das Nachthemd wieder auf dem Papier ausbreite, beobachtet sie mich eindringlich und neugierig. Ich lege es wieder so hin, wie ich es vorgefunden habe. Wegen des getrockneten Bluts fühlt sich der Stoff an manchen Stellen so steif an wie Tüll. Mandy sagt kein Wort und mischt sich auch nicht ein. Ich erzähle ihr nichts von meinen Gedanken, die von Minute zu Minute düsterer werden. Wieder schlage ich in Gloria Jordans Fallakte nach. Ich studiere Körperdiagramme und die Laborberichte, die die an ihrem Nachthemd sichergestellten Blutproben behandeln und das Vorhandensein ihrer DNA bestätigen, was zu erwarten ist. Allerdings auch das ihres Mannes und ihrer fünfjährigen Tochter. Warum Brendas Blut?
Colins Messungen und Beschreibungen zufolge beginnt die Wunde an Glorias Hals hinter dem linken Ohr und verläuft in einem geraden Schnitt abwärts, führt unter dem Kinn hindurch und endet am rechten Ohrläppchen, was bedeutet, dass ihr von hinten die Kehle durchgeschnitten wurde. Wenn sie ahnungslos war, würde das das Fehlen von Abwehrverletzungen erklären, was Colin mitgeteilt hat. Allerdings wirft es weitere Fragen auf. Als Nächstes stoße ich auf ein Foto, das sie auch im Bett zeigt, eine Nahaufnahme vom Fußende aus. Ihre Fußrücken sind mit Blutströpfchen bedeckt, die Fußsohlen sind blutig, was unmöglich ist, wenn sie im Liegen ermordet wurde. Doch es ist schwer festzustellen, da überall so viel Blut ist. Ich frage mich, wie jemand Mrs. Jordan von hinten die Kehle durchschneiden konnte, während sie, betäubt vom Clonazepam, schlafend im Bett lag.
Ich sehe Blutspuren, Blutschmierer, Blutlachen, blutige Fußabdrücke, Blutspritzer auf der Treppe und dann ein Muster aus Blutstropfen, das auf eine durchtrennte Arterie hinweist. Vielleicht stammt es ja von einem Messerstich in den Hals, möglicherweise Gloria Jordans Hals. Die Bögen folgen dem Takt des schlagenden Herzens, eines Herzens, das bald für immer stehenbleiben wird. Aber wessen Herz? Und wohin ist die Person gegangen? Nach oben oder ins Erdgeschoss? Ins Haus oder nach draußen? Nicht einmal fähige Mordermittler wie Sammy Chang sind in der Lage, jeden Blutstropfen an einem Tatort sicherzustellen. Und die Labors konnten unmöglich alles analysieren.
Dann geht es die Treppe hinunter zum unteren Treppenabsatz. In der Nähe der Vordertür, wo Brenda ihren Verletzungen erlegen ist, halte ich inne und grüble weiter darüber nach, wie ihr Blut an das Nachthemd ihrer Mutter geraten konnte, die doch angeblich im Bett gestorben ist. Ich suche nach Hinweisen darauf, dass jemand versucht hat, das Blut in der Vorhalle, auf der Treppe, im Flur oder sonst irgendwo im Haus aufzuwischen. Aber vergeblich. Auch in den mir bekannten Berichten steht nichts davon. Also wende ich mich wieder dem Eingangsbereich und Brendas Leiche zu, ein Anblick, der die vom Nachbarn alarmierten Polizisten bis ins Mark schockiert haben muss.
Kein geistig gesunder Mensch sieht sich
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