Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
sich aller Wahrscheinlichkeit nach ein paar Drinks genehmigt und dann etwa ein Milligramm Ritrovil eingenommen, um sich zu beruhigen oder besser schlafen zu können. Dieser Gedanke führt mich zur anderen Seite des Tischs, wo ein nicht vom Gericht als Beweisstück gekennzeichneter Asservatenbeutel aus Plastik liegt. Er enthält sechs Döschen verschreibungspflichtiger Medikamente, von denen nur eine, der Betablocker Dociton, Dr. Clarence Jordans Namen trägt. Die anderen sind seiner Frau verordnet worden, darunter Antibiotika, ein Antidepressivum und Clonazepam. Es ist zwar nicht ungewöhnlich, dass Menschen einander mit Medikamenten aushelfen, aber bei Clarence Jordan wundert es mich dennoch.
Schließlich war er Arzt und hatte Zugriff auf Proben und jedes beliebige Medikament seiner Wahl. Außerdem ist es verboten, die verschreibungspflichtigen Medikamente anderer Leute zu nehmen. Natürlich schließt das nicht aus, dass er sich aus dem Ritrovilvorrat seiner Frau bedient hat, als er am Abend des 5. Januar, etwa zur Essenszeit, von seinem ehrenamtlichen Einsatz im Obdachlosenheim nach Hause kam. Allerdings könnte er das Beruhigungsmittel auch unfreiwillig geschluckt haben. Schließlich ist es ein Kinderspiel, die Tabletten zu zermahlen und sie jemandem ins Glas zu geben. Wieder muss ich an das Dienstbuch der Sicherheitsfirma denken, das ich durchgeschaut habe.
Laut den im Archiv des Unternehmens verzeichneten Daten haben die Jordans die Alarmanlage im November 2001 wiederholt ein- und ausgeschaltet. Doch im Dezember änderte sich das Muster, und zwar, als die angeblich von den Kindern der Jordans ausgelösten Fehlalarme allmählich lästig wurden. Im letzten Lebensmonat der Jordans fanden fünf Fehlalarme statt, und zwar immer ausgehend vom selben Bereich, der Küchentür. Die Polizei griff nicht ein, und es wurde Entwarnung gegeben, da der Kunde der Sicherheitsfirma am Telefon bestätigte, dass nichts vorgefallen sei. Als ich weiterlese, stelle ich fest, dass der Umgang mit der Alarmanlage während der Feiertage immer nachlässiger wurde. Allerdings war sie nachts meistens eingeschaltet. Deshalb erscheinen mir die Daten vom 5. Januar ziemlich seltsam. Den ganzen Tag bis kurz vor acht war die Alarmanlage nicht aktiviert. Dann, kurz vor elf, wurde sie ausund nie wieder eingeschaltet, und das widerspricht dem, was Medien und Polizei jahrelang angenommen haben.
Für mich sieht es eher danach aus, dass Dr. Jordan von seinem ehrenamtlichen Einsatz nach Hause kam und die Alarmanlage einschaltete. Drei Stunden später wurde sie dann von jemandem deaktiviert, was mich, in Kombination mit dem Umstand, dass er ein ihm nicht verordnetes Beruhigungsmittel im Blut hatte, ein wenig stutzig macht. Ich breite die Tatortfotos aus, die das Blutbad im Elternschlafzimmer der Jordans zeigen, und betrachte die Leichen des Paars im Bett. Die Decken sind bis zum Hals hochgezogen, was ich ebenfalls merkwürdig finde. Menschen verharren nicht reglos wie Schaufensterpuppen, wenn sie ermordet werden. Außerdem ist die Bettwäsche nach der Tat nicht fein säuberlich über sie gebreitet, sofern der Täter die Ordnung aus psychischen Gründen oder um sein Verbrechen zu tarnen nicht wiederhergestellt hat. Colin hat angemerkt, die Leichen könnten drapiert worden sein, um sie noch im Tod zu verhöhnen. Ich sehe mir weitere Fotos an, die entstanden sind, nachdem er die Leichen von Dr. und Mrs. Jordan aufgedeckt hatte, um sie vor Ort zu untersuchen.
Er liegt, der Kopf auf dem Kissen, auf dem Rücken und starrt geradeaus. Sein Mund steht leicht offen, die Arme liegen gestreckt seitlich am Körper. Sein Penis ragt aus dem Eingriff seiner Boxershorts, und ich bezweifle, dass er in dieser Körperhaltung gestorben ist. Jemand hat ihn so hingelegt. Und je mehr Fotos ich studiere, desto besser verstehe ich den Hass, den Polizei, Staatsanwalt und viele andere gegenüber Lola Daggette empfunden haben. Schließlich mussten sie annehmen, dass sie sich am Tatort einen Spaß daraus gemacht hat, die von ihr grausam abgeschlachteten Menschen zu erniedrigen.
Das T-Shirt und das Taillenbündchen von Dr. Jordans weißer Boxershort sind völlig mit Blut durchtränkt, das auch in das Laken unter ihm eingesickert ist. Die Blutlache reicht vom Rand des Bettes bis unter die Leiche seiner Frau. Das gesamte Spannbettlaken ist voller Blut. Ihm wurde insgesamt neunmal in Brust und Hals gestochen, und nichts deutet darauf hin, dass er sich verteidigt oder versucht hat, den
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