Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
bekommen und mich auf das Gespräch vorzubereiten. Als ich in die Houston Street einbiege und mich vom Fluss entferne, schlägt die Glocke der City Hall neunmal. Ich setze meinen Weg in die Altstadt fort, schlendere die East Broughton entlang nach rechts und bleibe an der Abercorn Street vor dem Owens- Thomas House stehen, einer zweihundert Jahre alten Villa aus Kalkstein mit ionischen Säulen, die heute ein Museum ist. Ringsherum stehen weitere anmutige Gebäude und Privathäuser aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, und ich muss an das dreigeschossige Backsteinhaus denken, das ich vor neun Jahren in den Nachrichten gesehen habe. Wo haben die Jordans gewohnt? Ganz hier in der Nähe vielleicht? Hat die Mörderin – allein oder mit einem Komplizen – sich die Familie mit Bedacht ausgesucht, oder war sie Zufallsopfer einer günstigen Gelegenheit? Die meisten Einwohner dieses Viertels haben eine Alarmanlage, und es beschäftigt mich, dass die Jordans ihre offenbar nicht eingeschaltet hatten. Das ist vielen aufgrund der Fehlalarme zu lästig, selbst wohlhabenden Leuten, die es eigentlich besser wissen müssten.
Doch wenn man einen Einbruch in eine Luxusvilla plant, in den frühen Morgenstunden, wenn die Familie noch schläft, muss man vom Vorhandensein einer Alarmanlage ausgehen. Und zwar einer eingeschalteten. In den Artikeln, die ich im Auto vor der Waffenhandlung überflogen habe, stand, dass Clarence Jordan am Nachmittag des 5. Januar, eines Samstags, ehrenamtlich in einer Notunterkunft für männliche Obdachlose ausgeholfen hat und gegen halb acht Uhr abends nach Hause kam. Eine Alarmanlage oder ein Grund, warum er sie vor dem Zubettgehen nicht aktiviert hat, wurde nicht erwähnt. Aber offenbar hat er es nicht getan. Die Alarmanlage kann zum Zeitpunkt des Einbruchs irgendwann nach Mitternacht am folgenden Morgen nicht eingeschaltet gewesen sein.
Die Mörderin – angeblich Lola Daggette – hat die Scheibe der Hintertür im Erdgeschoss eingeschlagen, hineingegriffen, das Schloss geöffnet und ist einfach ins Haus spaziert. Auch wenn die Alarmanlage nicht mit Glasbruchsensoren oder Bewegungsmeldern ausgestattet war, hätten Kontakte vorhanden sein müssen. Und selbst wenn die Täterin die Zahlenkombination kannte, hätte das System bis zu seiner Deaktivierung anschlagen müssen, sobald sich die Tür öffnete. Es ist schwer vorzustellen, dass vier Menschen dieses Geräusch verschlafen haben sollen. Vielleicht kennt Jaime ja die Antwort. Möglicherweise hat Lola Daggette ihr erzählt, was wirklich vorgefallen ist, und ich werde bald erfahren, warum ich hier bin und was mich diese Sache angeht.
Ich stehe in der vom Schein hoher eiserner Laternen unterbrochenen Dunkelheit auf dem Gehweg und versuche, meinen Anwalt Leonard Brazzo zu erreichen. Er hat eine Schwäche für Steakhäuser, und als er sich meldet, sagt er, er sei gerade im Palm, wo die Hölle los sei.
»Ich geh mal kurz raus«, hallt seine Stimme in meinem Bluetooth-Ohrhörer. »So, jetzt ist es besser«, fügt er hinzu. Ich höre Autohupen. »Wie war es? Und wie ist sie so?« Er meint Kathleen Lawler.
»Sie hat von Briefen gesprochen, die Jack ihr geschrieben hat«, erwidere ich. »Soweit ich mich erinnere, sind aber keine Briefe gefunden worden. Als ich in seinem Haus in Salem seine Sachen durchgeschaut habe, habe ich nichts dergleichen entdeckt. Allerdings ist es auch möglich, dass man sie mir gegenüber nicht erwähnt hat«, antworte ich, während ich das Haus aus weißem Backstein auf der anderen Straßenseite betrachte, in dem Jaime Berger wohnt. Acht Stockwerke. Die großen Fenster sind mit Läden versehen.
Sie haben ihn angekotzt .
»Keine Ahnung«, entgegnet Leonard. »Aber warum hätte Jack die Briefe haben sollen, die er an sie geschrieben hat?«
»Ich weiß nicht.«
»Außer sie hat sie ihm irgendwann zurückgegeben. Mann, ist das windig hier. Hoffentlich können Sie mich verstehen.«
»Ich wiederhole nur ihre Worte.«
»Das FBI«, fährt er fort. »Es würde mich nicht wundern, wenn man sich dort eine richterliche Anordnung besorgt hat, um ihre Zelle oder einen anderen Ort, wo sie ihre persönliche Habe eingelagert hat, zu durchsuchen, und zwar nach Briefen an und von Jack Fielding und Dawn Kincaid.«
»Und darüber hätte man uns nicht unbedingt informiert«, ergänze ich.
»Richtig. Polizei und Justizministerium wären nicht verpflichtet gewesen, uns die Briefe zu zeigen oder auch nur ihre Existenz zu erwähnen.«
Natürlich nicht.
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