Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
und Lucy eine schlechte Tante. Nie komme ich sie besuchen, und ich rufe nur selten an. Letztens warf meine Mutter mir vor, ich hätte mein italienisches Erbe vergessen. Als ob man zur Italienerin würde, wenn man in einem italienischen Viertel von Miami aufwächst.
Draußen vor dem Hotel ist die Sonne hinter den Ziegelgebäuden und Steinhäusern in der Bay Street untergegangen. Die Luft ist noch heiß, aber nicht mehr annähernd so feucht. In der City Hall läutet eine Glocke. Ihr sattes metallisches Geräusch schlägt die halbe Stunde, als ich die Granitstufen zur River Street hinter dem Hotel hinuntergehe. Durch erleuchtete Bogenfenster im Untergeschoss sehe ich, dass ein Ballsaal für irgendeine Veranstaltung hergerichtet wird. Und dann liegt vor mir der Fluss. Im schwindenden Licht der Abenddämmerung ist er tiefblau geworden. Der Himmel klart auf, und ein riesiger, ovaler Mond geht auf. Straßen und Gehwege wimmeln von Touristen, die eine Schiffsrundfahrt bei Sonnenuntergang unternehmen oder die Restaurants und Souvenirläden besuchen wollen. Alte Männer verkaufen steife gelbe Blüten aus geflochtenem Vanillegras. Der Vanilleduft der langen, dünnen Halme liegt in der Luft, und in der Ferne höre ich die gefühlvollen Klänge einer Indianerflöte.
Ich nehme alles überdeutlich wahr. Jeden einzelnen Menschen. Doch ich sehe niemandem ins Gesicht. Wer weiß sonst noch, dass ich hier bin? Wen kümmert es und warum? Ich schreite zielstrebig voran, fühle mich aber nicht wirklich frei. Am liebsten würde ich mich in eines der einladenden Restaurants flüchten und Jaime Berger und ihr Anliegen an mich vergessen. Ich wünschte, ich könnte auch Kathleen Lawler und die Teufelin, die ihre Tochter ist, aus meinem Gedächtnis streichen. Und außerdem die Tragödie in Jack Fieldings Leben, ein Schicksal, schlimmer als der Tod. Während der sechs Monate, die ich auf der Dover Air Force Base meine Zusatzqualifikation in radiologischer Pathologie erworben habe, damit wir an meinem neuen Arbeitsplatz in Cambridge CT-Aufnahmen und virtuelle Autopsien durchführen können, hatte er sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Ich hatte Jack die Chance seines Lebens gegeben, indem ich ihm in meiner Abwesenheit die Leitung des Instituts übertrug. Und er hat es beinahe an die Wand gefahren.
Möglicherweise lag es an den Drogen, die er nahm, oder daran, dass seine Tochter ihn in ein waidwundes Tier verwandelt hatte. Vielleicht hat er einiges auch des Geldes wegen getan. Allerdings würde ich niemals laut aussprechen, dass der Tod für Jack eine Erlösung war und dass ich erleichtert bin, ihn nicht zur Rede zu stellen und ihn endgültig aus meinem Leben verbannen zu müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, was er sich dabei gedacht hat, außer dass ihm die Folgen einfach gleichgültig geworden sind. Jedenfalls hat er uns beiden die schrecklichste und gnadenloseste Auseinandersetzung aller Zeiten erspart, denn das wäre es sicherlich geworden, ein Streit, der sich schon seit einem halben Leben angebahnt hatte und in dem er sicherlich unterlegen wäre. Er hat doch wissen müssen, dass ich bei meiner Rückkehr all seine Vergehen, Regelverstöße und unmoralischen und selbstsüchtigen Handlungen aufdecken würde. Jack Fielding hat wissen müssen, dass das Spiel aus war. Bestimmt war ihm klar, dass ich ihm diesmal nicht verzeihen, ihn wieder aufnehmen und schützen würde. Als Dawn Kincaid ihn umgebracht hat, war er eigentlich schon tot.
Auf eine sonderbare Weise hat mir diese Erkenntnis eine unerwartete Befriedigung und ein wenig mehr Selbstachtung verschafft. Ich habe mich auch verändert. Man kann nicht bedingungslos lieben. Manche Menschen können einem die Liebe gründlich austreiben. Sie können sie töten, und man ist nicht schuld daran, dass man nichts mehr für sie empfindet. Wenn Jack noch am Leben wäre, würde ich ihn nicht lieben. Als ich im Keller seines Hauses in Salem seine Leiche untersuchte, habe ich ihn nicht geliebt. Er hat sich unter meinen Händen steif und kalt angefühlt. Unnachgiebig und starrsinnig hat er sich im Tod ebenso an seine schmutzigen Geheimnisse geklammert wie im Leben. Ein Teil von mir war froh darüber, dass es ihn nicht mehr gab. Ich war erleichtert. Ich war dankbar. Ich danke dir für die Freiheit, Jack. Danke dafür, dass du für immer fort bist, sodass ich mich nicht mehr verpflichtet fühle, noch länger mein Leben an dich zu vergeuden .
Ich gehe eine Weile spazieren, um ihn aus dem Kopf zu
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