Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
die mir bekannten Informationen auch drehe und wende, erscheint mir jede Antwort an den Haaren herbeigezogen. Dennoch kann ich nicht aufhören, darin herumzuwühlen, immer in der Hoffnung, endlich einen Sinn zu erkennen. Aber es ist alles so entsetzlich unlogisch. Falls Jaime hinter meinem heutigen Besuch im GPFW steckt und weiß, dass ich die Nacht in diesem Hotel verbringe, hat sie es doch nicht nötig, mir durch eine Gefangene die Nummer ihres Mobiltelefons zustecken zu lassen. Warum hat sie mich nicht einfach angerufen? Meine Mobilfunknummer ist noch dieselbe. Ihre auch. Und meine E-Mail-Adresse kennt sie ebenfalls.
Sie hätte mich also auf den verschiedensten Wegen direkt erreichen können. Und was sollte das mit dem öffentlichen Telefon? Dazu noch der Transporter und das stornierte Hotelzimmer. Ich denke an Tara Grimms Worte. Zufälle . Ich glaube nicht an Zufälle, und sie hat, zumindest was die Ereignisse der jüngsten Zeit angeht, recht. Es sind zu viele Zufälle, um sie als willkürlich und bedeutungslos einzustufen. Nein, sie summieren sich zu etwas, auch wenn ich nicht zu fassen bekomme, was das sein könnte. Also ist es wohl das Beste, wenn ich mich nicht länger deshalb verrückt mache. Ich putze mir die Zähne und wasche mir das Gesicht. Eigentlich würde ich jetzt gern lange und heiß duschen oder ein Bad nehmen, aber dafür reicht die Zeit nicht.
Als ich mich im Spiegel über dem Waschbecken betrachte, komme ich zu dem Ergebnis, dass ich wegen der Hitze, des Regens, der im Gefängnis verbrachten Stunden und der Fahrerei in einer Schrottlaube ohne Klimaanlage mitgenommen aussehe. So soll Jaime mich nicht erleben. Auch wenn ich die Gefühle, die sie in mir auslöst, nicht genau benennen kann, erkenne ich Zwiespältigkeit, Verlegenheit und eine gewisse Beklommenheit, die sich in all den Jahren unserer Bekanntschaft nie gelegt hat. Obwohl es unvernünftig ist, bin ich machtlos dagegen. Ich kann nicht in Worte fassen, wie es sich angefühlt hat, zu beobachten, wie Lucy sie so unverhohlen angehimmelt hat.
Ich erinnere mich an ihre erste Begegnung vor mehr als zehn Jahren. Wie Lucy auflebte und wie sie an Jaimes Lippen hing und jede ihrer Gesten mit Blicken verfolgte. Lucy konnte die Augen nicht von ihr abwenden, und als sich die Beziehung viele Jahre später gemäß ihrer Bestimmung entwickelte, war ich erstaunt und froh. Zugleich aber erschrocken und beunruhigt. Und vor allem traute ich dem Frieden nicht. Lucy würde Blessuren davontragen. Das war mein ständiger Gedanke. Ich befürchtete, dass sie so schwer verletzt werden würde wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Keine Frau, mit der sie je zusammen war, kann Jaime, die etwa in meinem Alter ist, das Wasser reichen. Sie ist kraftvoll und anziehend. Sie ist reich. Sie ist brillant. Sie ist schön.
Ich mustere mein kurzes blondes Haar, knete ein wenig Gel hinein und betrachte dann das Gesicht, das mir entgegenstarrt. Die Deckenbeleuchtung schmeichelt mir nicht, sondern wirft Schatten, die meine markanten Gesichtszüge betonen und die Fältchen in meinen Augenwinkeln und die flachen Einkerbungen zwischen Nase und Mund tiefer erscheinen lassen. Ich sehe abgekämpft aus. Und älter. Jaime wird meinen Zustand nach einem kurzen Blick in dem Satz zusammenfassen, dass mein Erlebnis seinen Tribut gefordert hat. Einer Mörderin nur um Haaresbreite entronnen zu sein, hat seine Spuren hinterlassen. Stress ist Gift. Er zerstört Zellen. Er kann zu Haarausfall führen. Extremer Stress verhindert einen tiefen Schlaf, sodass man immer unausgeruht wirkt. Eigentlich sehe ich gar nicht so schrecklich aus. Es liegt an den Lichtverhältnissen. Ich denke an Kathleens Lawlers Beschwerden über die miserable Beleuchtung und die schlechten Spiegel. Dabei fallen mir leider Bemerkungen ein, die Benton in letzter Zeit gemacht hat.
Ich finge an, meiner Mutter zu ähneln, meinte er letztens, als er hinter mich trat und die Arme um mich legte, während ich mich gerade anzog. Er sagte, es liege an meiner Frisur, vielleicht weil sie ein wenig kürzer sei, und das war als Kompliment gedacht. Allerdings habe ich es nicht so verstanden. Ich will meiner Mutter nicht ähneln und auch nicht meiner einzigen Schwester Dorothy, die beide noch in Miami wohnen und ständig nur jammern. Über die Hitze, die Nachbarn, die Nachbarshunde, die streunenden Katzen, die Politiker, die Kriminalität, die Wirtschaftslage und natürlich über mich. Ich bin eine schlechte Tochter, eine schlechte Schwester
Weitere Kostenlose Bücher