Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
Schließlich bin ich nicht diejenige, die wegen Mordes und Mordversuchs vor Gericht gestellt werden soll. Das ist die tragische Ironie des Schicksals. Im Rahmen der Beweisaufnahme haben Dawn Kincaid und ihre Verteidiger das Recht auf Einsicht in alle Beweise, die der Staatsanwaltschaft vorliegen, einschließlich der Briefe, die Jack möglicherweise an Kathleen Lawler geschrieben hat und in denen er mich herabwürdigt. Ich hingegen erfahre erst von ihnen oder ihrem Inhalt, wenn sie im Gerichtssaal präsentiert und gegen mich verwendet werden. Opfer haben keine Rechte, während man sich an ihnen vergeht, und nur unwesentlich mehr, wenn die Mühlen der Justiz langsam vor sich hin mahlen. Die Wunden können nicht heilen, weil Anwälte, Medien, Geschworene und Zeugen, die aussagen, dass jemand wie ich sein Schicksal selbst verschuldet hat, immer weiter Salz hineinreiben.
Er sagte oft, dass Sie keine Ahnung haben, wie Sie mit anderen umspringen … eine Zicke, die mal durchgevögelt werden müsste…
»Haben Sie Befürchtungen, was den Inhalt der Briefe angeht? «, erkundigt sich Leonard.
»Wenn das, was ich gehört habe, stimmt, stellen sie mich in keinem sehr positiven Licht dar. Das wird ihr nützen.«
Es wird Dawn Kincaid nützen, deute ich damit an, ohne es laut auszusprechen, während ich in der Dunkelheit auf dem Gehweg stehe. Menschen und Autos kommen vorbei. Scheinwerfer blenden mich. Je mehr ich in den Schmutz gezogen werde, desto unglaubwürdiger werde ich und umso weniger Mitgefühl werden die Geschworenen mit mir haben.
»Wir befassen uns mit den Briefen, wenn wir sie zu sehen kriegen«, meint Leonard. Ich soll mich nicht wegen einer Sache zermürben, die noch gar nicht eingetreten ist.
»Ich war außerdem neugierig, ob Jaime Berger sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt hat«, schneide ich dieses Thema an.
»Die Staatsanwältin?«
»Genau die.«
»Nein, hat sie nicht. Warum sollte sie?«
»Was können Sie mir über Carter Roberts erzählen?« Das ist der Anwalt, den Tara Grimm mir gegenüber erwähnt hat.
»Er engagiert sich ehrenamtlich beim Georgia Innocence Project, das sich für zu Unrecht Verurteilte einsetzt, und arbeitet in einer Kanzlei in Atlanta.«
»Also vertritt er Kathleen Lawler kostenlos.«
»Offenbar.«
»Warum sollte sich das Innocence Project für sie interessieren? Bestehen denn berechtigte Zweifel an ihrer Verurteilung wegen Fahren unter Alkoholeinfluss mit Todesfolge?«, frage ich.
»Ich weiß nur, dass er in ihrem Auftrag angerufen hat.«
Ich beschließe, nicht weiter nachzuhaken. Kathleen Lawlers Nachricht und ihre Anweisung, ein öffentliches Telefon zu benutzen, fallen mir ein. Warum? Falls das Jaimes Idee war, könnte das heißen, dass sie das Gespräch nicht am Mobiltelefon führen wollte. Ich sage Leonard Brazzo, ich würde ihm später mehr berichten, und wünsche ihm guten Appetit. Dann beende ich das Telefonat und überquere die Straße, um mich dem Unbekannten zu stellen. Ich überlege, welche Fenster wohl die von Jaime sind, ob sie Ausschau nach mir hält und wie es sein muss, in eine Welt hinauszublicken, in der Lucy nicht mehr vorkommt. Ich möchte meine Nichte nicht missen. Und ich fände es unerträglich, sie gekannt und dann wieder verloren zu haben.
Es gibt kein Personal im Haus, nicht einmal einen Portier. Als ich auf die Klingel der Wohnung 8SE drücke, summt der elektrische Türöffner laut, und die Tür geht mit einem Klicken auf, als wisse die Person, die mich einlässt, wer ich bin, ohne nachzufragen. Zum zweiten Mal an diesem Tag schaue ich mich nach Überwachungskameras um und entdecke eine in einem weißen Metallgehäuse, das sich kaum von den weißen Steinen in der Ecke über der Tür abhebt. Wenn Jaime mich auf einem Monitor sehen kann, denke ich, hat sie die Überwachungskamera vermutlich selbst einbauen lassen, und zwar eine mit Infrarotfunktion, damit sie auch bei Dunkelheit aufzeichnet.
Sonst kann ich keinen Hinweis darauf feststellen, dass es in diesem Haus irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen gibt. Nur elektronische Schlösser und eine Gegensprechanlage. Meine Neugier wächst. Savannah ist also nicht nur ein Zweitwohnsitz – nicht wenn Jaime sich die Mühe gemacht hat, eine hochmoderne Überwachungsanlage zu installieren. Als ich die Tür öffne, spüre ich jemanden hinter mir und drehe mich erschrocken um. Eine Person mit einem blinkenden Helm auf dem Kopf steigt von einem Fahrrad und lehnt es an einen Laternenmast am
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