Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
Straßenrand.
»Jaime Berger?«, spricht die Person mich an. Es ist eine Frau, wie mir klar wird, als sie den Rucksack abnimmt und eine große weiße Tüte herausholt.
»Nein«, erwidere ich, während sie auf mich zukommt. Auf der Tüte steht der Name eines Restaurants.
Sie drückt auf die Klingel und ruft in die Gegensprechanlage: »Lieferung für Jaime Berger.«
Ich halte die Tür auf. »Schon gut«, sage ich. »Ich kann es mit hinaufnehmen. Wie viel bin ich Ihnen schuldig?«
»Zwei Tekka Maki, zwei Unagi Maki, zwei California Maki, zweimal Seetangsalat. Wird von ihrer Kreditkarte abgebucht.« Als sie mir die Tüte reicht, gebe ich ihr zehn Dollar Trinkgeld. »Das nimmt sie donnerstags immer. Einen schönen Abend noch.«
Ich schließe die Tür und fahre mit dem Aufzug in die oberste Etage, wo ich einem kahlen, mit einem Teppich ausgestatteten Flur zu einer Wohnung in der südöstlichen Ecke folge. Beim Läuten blicke ich in die Linse einer weiteren Kamera. Dann öffnet sich die schwere Eichentür, und mir verschlägt es vor Überraschung die Sprache.
»Doc«, sagt Pete Marino. »Sei nicht sauer.«
8
Er bittet mich herein, als ob er hier der Hausherr wäre. Sein ernster Blick durch die Gläser der altmodischen Nickelbrille und seine finster zusammengepressten Lippen beunruhigen mich zunächst.
»Jaime müsste jeden Moment zurück sein.« Er schließt die Tür.
Mein Schreck verwandelt sich schlagartig in Wut, als ich ihn vom Scheitel seines kahlrasierten Schädels und dem breiten, zerfurchten Gesicht bis hinunter zu den Leinenschuhen mit Gummisohle mustere, die er ohne Socken trägt. Ich nehme zur Kenntnis, wie sein Hawaiihemd über die Schultern fällt, die breiter geworden zu sein scheinen. Der Bauch ist flacher, als ich es in Erinnerung habe. Eine weite grüne Anglershort mit Cargotaschen hängt ihm tief auf den Hüften, und er ist sonnengebräunt mit Ausnahme einer Stelle unter dem Kinn, die offenbar im Schatten geblieben ist. Er war in einem Boot auf dem Wasser oder an einem Strand, jedenfalls draußen im Sommerwetter, sodass seine Haut einen dunklen Farbton angenommen hat. Selbst sein kahler Schädel und die Oberseite seiner Ohrmuscheln haben einen Cognacton. Offenbar hat er eine Sonnenbrille und keine Mütze getragen. Ich denke an den weißen Transporter und die Bootsvermietungsbroschüren im Handschuhfach. Und an die Servietten.
Marino liebt frittiertes Huhn und Brötchen der Fastfood- Ketten Bojangles’ und Popeye und beklagt sich oft darüber, dass Frittiertes in Neuengland, anders als im Süden, nicht als »Grundnahrungsmittel« gilt. Vor nicht allzu langer Zeit hat er über spritschluckende gebrauchte Transporter und Boote geredet, die man für einen Spottpreis bekommen könne, und gejammert, wie sehr er das warme Wetter vermisse. Ich weiß noch, dass ich mich geärgert habe, dass er sich Anfang des Monats so kurzfristig Urlaub genommen hat. Er sagte, er habe ein tolles Pauschalreiseangebot aufgetan, wolle Angeln gehen und habe derzeit keine anstehenden Termine. Sein letzter Arbeitstag beim CFC war der 15. Juni.
Und nachdem Marino sich Mitte des Monats aus dem Staub gemacht hat, sind beinahe gleichzeitig mehrere ungewöhnliche Dinge geschehen. Kathleen Lawlers E-Mails an mich brachen ab. Sie wurde in Haus Bravo verlegt. Plötzlich wollte sie, dass ich sie im Gefängnis besuche, um über Jack Fielding zu sprechen. Leonard Brazzo hat mir zugeraten. Dann habe ich festgestellt, dass Jaime Berger hier ist. Und da ich nun die Ereignisse Revue passieren lasse, liegt es auf der Hand: Marino hat mich angelogen.
»Sie holt etwas zu essen«, sagt er und nimmt mir die Sushitüte ab. »Richtiges Essen. Ich stehe nicht auf Angelköder.«
Ich sehe einen Schreibtisch und einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen an der gegenüberliegenden Wand. Auf dem Tisch befinden sich zwei Laptops, ein Drucker, Bücher und Notizblöcke. Auf dem Boden sind Ziehharmonikaordner gestapelt.
»Dass wir drei uns in einem Restaurant unterhalten, ist nicht unbedingt eine gute Idee«, fügt er hinzu und stellt die Tüte auf den Küchentresen.
»Das kann ich nicht beurteilen, da ich keine Ahnung habe, warum du hier bist. Oder was ich hier soll«, entgegne ich.
»Möchtest du etwas trinken?«
»Nicht jetzt.«
Als ich an dem an der Wand montierten Überwachungsmonitor und einem Garderobenständer vorbeigehe, steigt mir kurz Zigarettenrauch in die Nase.
»Ich mache dir keinen Vorwurf daraus, dass du dich wunderst «, sagt Marino.
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