Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
vier Augen und nicht am Telefon mit mir reden wollte. Also bin ich sofort zur South Station gefahren und habe den Schnellzug nach New York genommen.«
Marino entschuldigt sich nicht. Offenbar ist er sicher, dass er das Richtige sagt und tut. Er zeigt nicht die Spur von Reue, weil er mir zwei Monate lang etwas verheimlicht hat, denn die schlaue und gerissene Jaime Berger hat ihn herumgeschoben wie eine Schachfigur. Sie wusste genau, was sie tat, als sie ihn anrief und den Code benutzte.
»Es wundert mich nur«, fährt er fort, »dass du mit dem FBI unter einem Dach wohnst und nicht gemerkt hast, dass deine verdammten Telefone abgehört werden.«
Als er sich im Ledersessel zurücklehnt und die stämmigen Beine übereinanderschlägt, erkenne ich die Reste einer früheren Kraft, die beachtlich gewesen sein muss. Ich denke an die Fotos aus seiner Zeit als Boxer. Damals war er Schwergewichtler, wo er hinschlug, wuchs kein Gras mehr. Wie viele Menschen müssen seinetwegen mit den Folgen einer Kopfverletzung leben? Wie viele Hirnschäden hat er auf dem Gewissen? Wie viele Gesichter hat er zerschmettert?
»Sie durchsuchen deine Mails«, sagt er. Ich sehe helle Narben an seinen massigen Knien und frage mich, wie er sie sich wohl zugezogen hat. »Möglicherweise wirst du auch geortet und beschattet.«
Ich stehe vom Sofa auf.
»Du weißt ja, wie es läuft.« Seine Stimme folgt mir in Jaime Bergers gutausgestattete Küche, die einen unbenutzten Eindruck macht. »Sie besorgen sich eine richterliche Anordnung, um einen auszuspionieren, und verraten es einem erst hinterher.«
9
Ich biete ihm nichts zu trinken an. Auch sonst nichts, als ich die Kühlschranktür öffne und den Blick über die Glasborde wandern lasse. Wein, Mineralwasser, Cola light, griechischer Joghurt, Wasabi, eingelegter Ingwer und Sojasauce mit vermindertem Salzgehalt.
Beim Öffnen der Schränke stoße ich auf die Grundausstattung aus Geschirr und Töpfen, die man in einer möblierten Wohnung erwartet. Dazu Salz- und Pfefferstreuer, aber keine anderen Gewürze, und eine kleine Flasche Johnny Walker Blue. Ich hole mir eine Wasserflasche aus der Speisekammer, wo weitere zuckerfreie Limonaden und verschiedene Vitamine, Schmerzmittel und Tabletten gegen Magenverstimmung stehen. Überall erkenne ich die bedrückenden Hinweise auf ein Leben, das zum Stillstand gekommen ist. Ich weiß, wie es in den Schränken, Speisekammern und Kühlschränken von Menschen aussieht, die eine Todesangst davor haben, jemanden zu verlieren. Jaime ist noch nicht über Lucy hinweg.
»Wie kann er dir verdammt noch mal so was verheimlichen?« Marino kommt nicht vom Thema Benton los. »Das hätte ich nie getan. Die hätten mir mit ihren beschissenen Vorschriften mal den Buckel runterrutschen können. Wenn ich wüsste, dass das FBI hinter dir her ist, würde ich es dir erzählen, was ich hiermit tue. Währenddessen sitzt er rum und spielt den braven, gesetzestreuen Staatsdiener und sieht untätig zu, wie seine eigene verdammte Behörde gegen seine Frau ermittelt. Genauso, wie er in der fraglichen Nacht nichts unternommen hat. Er hat sich vor dem Kaminfeuer einen Drink genehmigt und dich allein draußen in der Dunkelheit rumlaufen lassen.«
»So war es nicht.«
»Obwohl ihm klar war, dass Dawn Kincaid und vielleicht auch ihre Komplizen noch auf freiem Fuß waren, hat er dich nachts allein vor die Tür geschickt.«
»Es war ganz anders.«
»Es ist ein Wunder, dass du überhaupt noch lebst. Ich gebe ihm die Schuld, verdammt. Du hättest mausetot sein können, und zwar nur weil Benton den Arsch nicht hochgekriegt hat.«
Ich kehre zurück zum Sofa.
»Das verzeihe ich ihm nie.« Als ob es Marinos Sache wäre, irgendetwas zu verzeihen. Ich frage mich, ob Jaime ihn gegen Benton aufgehetzt hat.
Wie stark hat sie die Eifersucht in ihm angestachelt, die stets in ihm schlummert, bereit, beim kleinsten Anlass zuzuschlagen?
»Er wollte nicht, dass du herkommst, hat dir aber auch nicht angeboten, dich zu begleiten, oder?«, sagt Marino mit lauter, aufgebrachter Stimme, und ich denke an die Briefe und daran, wie unsicher und egoistisch er sein kann.
Als ich zum Chief Medical Examiner von Virginia ernannt wurde und Marino der Star-Detective von Richmond war, hat er alles versucht, um mich zu vertreiben, bis ihm klarwurde, dass es nur zu seinem Vorteil war, mich als Verbündete zu gewinnen. Vielleicht sind es ja immer noch meine Position und die Tatsache, dass ich mich stets um ihn gekümmert
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