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Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)

Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)

Titel: Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Rücken zu und starrt aus dem Fenster. Ich sitze reglos da. Die Stimmung hat sich verzogen wie ein heftiges, aus heiterem Himmel losgebrochenes Gewitter, und mir fällt wieder ein, was Marino vorhin über Jaime Berger gesagt hat. An seinen breiten, massigen Rücken gewandt, frage ich ihn, ob er die Bemerkung, Jaime sei in die Privatwirtschaft abgetaucht, wörtlich gemeint habe.
    »Ja«, entgegnet er, ohne sich umzudrehen. »Wortwörtlich.« Er teilt mir mit, sie sei nicht mehr bei der Staatsanwaltschaft. Sie habe gekündigt. Wie viele hochkarätige Staatsanwälte habe sie die Seiten gewechselt. Das tun fast alle irgendwann. Sie werfen einen schlecht bezahlten und undankbaren Job in einer düsteren, nach bürokratischem Mief riechenden Amtsstube hin, weil sie die endlose Karawane von tragischen Fällen, Parasiten, hartgesottenen Gaunern und Betrügern satt haben, die sie durch das System schleusen müssen. Böse Menschen, die anderen bösen Menschen Böses antun. Anders als die Öffentlichkeit gern glaubt, sind nicht alle Opfer unschuldige oder mitleiderregende Wesen, und Jaime meinte häufig, ich solle mich glücklich schätzen, weil meine Patienten mich nicht belügen könnten. An dem Tag, an dem ein Zeuge oder ein Opfer ihr das letzte Mal die Wahrheit gesagt habe, habe es in der Hölle sicher Bodenfrost gegeben. Wahrscheinlich ist es einfacher, wenn sie tot sind , fügte sie hinzu. Und zumindest in diesem Punkt hatte sie recht: Als Toter ist das Lügen um einiges schwieriger.
    Allerdings hätte ich nie gedacht, dass Jaime in die Privatwirtschaft gehen würde. Ich glaube nicht, dass ihre Entscheidung finanzielle Gründe hatte, als ich Marinos Bericht lausche, sie habe eine Abschiedsparty und überhaupt jegliche Art von Feierlichkeit, ja, sogar ein Mittagessen, einen Kuchen oder einen Umtrunk nach Feierabend abgelehnt. Stattdessen habe sie sich lautlos aus dem Staub gemacht, ohne großen Bahnhof, fristlos, und zwar etwa um dieselbe Zeit, als sie sich im CFC nach Lola Daggette erkundigte, erzählt er. Da wird mir klar, dass etwas geschehen sein muss. Nicht nur mit Jaime, sondern auch mit Marino. Ich spüre, dass ihrer beider Leben eine andere Wendung genommen haben, und es enttäuscht mich, dass ich bis zu diesem Moment ahnungslos gewesen bin. Es ist sehr traurig, dass keiner von ihnen sich mir anvertrauen konnte.
    Vielleicht verlange ich meinen Mitmenschen ja wirklich zu viel ab, und wieder höre ich Kathleen Lawlers grausame Worte und sehe ihre triumphierende Miene. Ich bin tief verletzt. Erst jetzt wird mir klar, wie sehr, und das liegt daran, dass in Kathleens Bemerkungen ein Körnchen Wahrheit liegt. Ich bin kein einfacher Mensch. Und es ist eine Tatsache, dass ich nie viele Freunde hatte. Lucy, Benton, ein paar ehemalige Mitarbeiter. Und immer Marino. Trotz unserer schweren Krisen ist er geblieben, und ich möchte nicht, dass sich daran etwas ändert.
    »Ich habe so ein Gefühl, dass Jaime bei ihrem Anruf im CFC noch mehr wissen wollte«, sage ich zu ihm. Mein Tonfall hat nichts Vorwurfsvolles an sich. »Vermutlich ist es auch kein Zufall, dass du etwa um die Zeit dieses Anrufs und deiner Zugfahrt nach New York angefangen hast, vom Fischen, von Booten und davon zu reden, wie sehr du den Süden vermisst.«
    »Wir haben uns besser verstanden, als ich nicht für dich gearbeitet habe.« Er dreht sich um und kehrt zu seinem Sessel zurück. »Mir war es lieber, wenn ich als Experte hinzugezogen wurde, als Detective bei der Mordkommission oder als Sergeant Detective beim Sondereinsatzkommando, anstatt an deinem Institut oder bei der Staatsanwaltschaft beschäftigt zu sein. Und jetzt arbeite ich schon wieder für dich. Ich bin ein erfahrener Mordermittler und für die Untersuchung von Tatorten und Todesfällen ausgebildet. Überleg nur, welchen Mist ich schon erlebt und gesehen habe. Ich will nicht den Rest meines Lebens an einem Schreibtisch sitzen und darauf warten, dass ich Anweisungen bekomme oder dass etwas passiert.«
    »Du möchtest also kündigen«, erwidere ich. »Darauf willst du offenbar hinaus.«
    »Nicht unbedingt.«
    »Du hast es verdient, das Leben zu führen, das du dir wünscht, und zwar mehr als jeder, den ich sonst kenne. Es enttäuscht mich, dass du glaubst, du könntest mit mir nicht über deine Gefühle sprechen. Wahrscheinlich ist es das, was mich am meisten belastet.«
    »Ich möchte nicht kündigen.«
    »Es klingt, als hättest du es schon getan.«
    »Ich will mich als Berater selbständig

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