Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
Was, um Himmels willen?
»Ich musste sichergehen, dass dir niemand folgt, Doc«, spricht er weiter. »Lass uns offen sein. Benton kennt deine Pläne und deine Reiseroute, weil Bryce ihm die E-Mails weiterleitet. Sie sind auf dem CFC-Computer.«
Das soll heißen, dass der von Bryce gebuchte Mietwagen in meinem Reiseplan aufgeführt ist, der defekte Transporter mit der undichten Motorhaube aber nicht. Und mein Zimmer im Hyatt ist Geschichte, denn das wurde ja storniert. Allerdings bin ich nicht sicher, was Marinos Anspielung auf Benton zu bedeuten hat.
»Wir wollen es einmal so ausdrücken«, fährt Marino fort. »Auf dem Parkplatz der Lowcountry Concierge Connection steht ein Toyota Camry mit dem Namen Dr. Kay Scarpetta darauf. Falls sich jemand dort herumtreibt und darauf wartet, dass du das Auto abholst, weil er möglicherweise Zugriff auf deinen Reiseplan und deine Mails hatte oder auf anderem Wege von deinen Absichten erfahren hat, steht er sich jetzt die Beine in den Bauch. Und wenn er dann im Hotel anruft, kriegt er die Auskunft, du hättest dein Zimmer storniert, weil du den Anschlussflug in Atlanta verpasst hättest.«
»Warum sollte Benton mich beschatten lassen?«
»Er vielleicht nicht. Doch jemand könnte die Informationen abgefangen haben, die von deinem E-Mail-Konto auf seins geschickt wurden. Möglicherweise hatte Benton diese Vermutung und wollte deshalb nicht, dass du hierherkommst.«
»Woher weißt du, dass er das nicht wollte?«
»Weil es so ist.«
Ich antworte nicht und schaue Marino auch nicht in die Augen. Stattdessen sehe ich mich um und lasse Jaimes wunderschönes Loft in allen Einzelheiten auf mich wirken. Jede Menge freiliegender alter Backsteinmauern, Parkettböden und hohe, weiß verputzte Decken mit derben Eichenbalken. Sehr nach meinem Geschmack, aber eindeutig nicht nach ihrem. Der Wohnbereich ist schlicht mit einem Ledersofa, einem passenden Lehnsessel und einem Couchtisch mit Schieferplatte eingerichtet. Er geht in eine große Küche über, deren steinerner Küchenblock und Geräte aus Edelstahl das Richtige für jemanden wären, der mit Begeisterung kocht. Und das trifft auf Berger ganz sicher nicht zu.
Nirgendwo hängt ein Bild, und dabei weiß ich, dass sie Kunstsammlerin ist. Außerdem kann ich bis auf die Gegenstände auf dem Schreibtisch und auf dem Boden unter dem großen, von Nacht erfüllten Fenster keine persönlichen Sachen entdecken. Der Mond ist inzwischen weit entfernt und klein und weiß wie ein Knochen. Ich sehe keine Möbelstücke oder Teppiche, die von ihr sein könnten, und ich kenne ihren Geschmack. Modern und minimalistisch, hauptsächlich teures italienisches und skandinavisches Design und viel helles Holz wie Ahorn oder Birke. Jaime liebt klare Linien, weil ihr Leben das Gegenteil davon ist. Ich weiß noch, wie unwohl sie sich in Lucys Loft in Greenwich Village gefühlt hat, einem traumhaften Gebäude, das früher eine Kerzenfabrik war. Es hat mich ziemlich gekränkt, dass Jaime es immer als »Lucys zugige alte Scheune« bezeichnet hat.
»Warum hat sie diese Wohnung gemietet?«, frage ich Marino und setze mich auf das braune Ledersofa, ein Plagiat und ganz und gar nicht Jaimes Stil. »Und wie passt du in diese Gleichung? Oder ich? Warum bist du überzeugt, dass jemand mir gefolgt wäre, falls er die Möglichkeit dazu gehabt hätte? Du hättest mich doch einfach anrufen können, wenn du dir solche Sorgen machst. Was ist los? Überlegst du dir, ob du den Arbeitsplatz wechseln sollst? Oder hast du bereits wieder bei Jaime angeheuert und nur vergessen, es mir mitzuteilen?«
»Als Arbeitsplatzwechsel würde ich es nicht unbedingt bezeichnen, Doc.«
»Nicht unbedingt? Nun, offenbar hat sie dich da in etwas hineingezogen. Das sollte dir inzwischen klar sein.«
Jaime Berger ist auf fast beängstigende Weise berechnend, und Marino ist ihr nicht gewachsen. Das war er weder damals, als er in seiner Zeit als Ermittler beim NYPD der Staatsanwaltschaft zugeordnet wurde, noch heute. Er wird ihr nie das Wasser reichen können. Ganz gleich, welche Gründe sie ihm auch genannt haben mag, warum er herkommen und mich in dieses, wie ich es empfinde, ausgeklügelte Ränkespiel verwickeln soll, handelt es sich dabei auch nicht annähernd um die ganze Wahrheit.
»Faktisch arbeitest du für sie, weil du auf ihre Anweisung hier bist«, fahre ich fort. »Denn für mich arbeitest du eindeutig nicht, solange du mein Auto vertauschst, mein Hotelzimmer stornierst und dich hinter
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