Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
gezwungen wurde zu kündigen. Was würdest du sagen, wenn dich jemand nach allem, was du getan hast, um so weit zu kommen, aus dem Amt drängen würde?«
»Ich hoffe, dass ich dann nicht so tief sinken würde, jemanden, den ich angeblich liebe, zu einer zerstörerischen Handlung zu verleiten, weil ich einen Grund brauche, die Beziehung zu beenden«, erwidere ich.
»Schon, aber die Trennung von Lucy hat doch nichts damit zu tun, dass Jaime bei der Staatsanwaltschaft rausgeekelt wurde.«
»Und ob sie das hat. Jaime hat sich neu erschaffen«, widerspreche ich. »Ihr hat nicht gefallen, was sie sah. Und so hat sie es kaputtgeschlagen, damit sie wieder ganz von vorn anfangen kann. Nur dass das nicht klappt. Niemals. Ein Neustart darf nicht auf einer Lüge aufbauen. Du hast ihr mit der Überwachungsanlage geholfen. Trägt sie inzwischen auch eine Waffe?«
»Ich habe ein bisschen mit ihr in einem Schießstand geübt.«
»Wessen Idee war das?«
»Ihre.«
»Die meisten New Yorker sind nicht bewaffnet. Das gehört nicht zu ihrer Kultur. Warum braucht sie plötzlich eine Pistole?«
»Vielleicht liegt es daran, dass sie nun hier ist und sich nicht wirklich heimisch fühlt. Und wenn wir ehrlich sind, kann die Sache mit Dawn Kincaid einem ganz schön Angst machen. Ich glaube, was momentan läuft, ist ihr nicht ganz geheuer. Außerdem hat sie sich durch Lucy, die immer bewaffnet ist, an Pistolen gewöhnt. Die nimmt ihre Glock vermutlich sogar mit zum Duschen. Vielleicht sind Waffen für Jaime inzwischen etwas Alltägliches, weil sie mit ihnen unter einem Dach gewohnt hat.«
»Genauso wie eine GmbH namens Anna Copper für sie etwas Alltägliches geworden ist, und zwar, obwohl sie ursprünglich ein böswilliger Streich einer gekränkten Lucy war? Ja, Groucho Marx hatte viel Geld in Anaconda Copper gesteckt, eine Bergwerksgesellschaft, die während der Weltwirtschaftskrise baden ging und große Umweltschäden angerichtet hat. Begreifst du denn nicht, was hier los ist?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
»Man investiert viel in etwas, was einem sehr wertvoll erscheint, aber in Wahrheit giftig ist, und dann verliert man alles. Das kann einem das Genick brechen.«
»Du solltest dir nicht über Jaimes Mist den Kopf zerbrechen.«
»Das sollte ich durchaus. Und du ebenfalls. Auf einer sachlichen Ebene an Ermittlungen mitzuwirken, ist eine Sache. Doch wenn einen jemand vor den eigenen Karren spannt, insbesondere wenn es sich um einen sehr privaten und außerdem fehlgeleiteten Rachefeldzug handelt, ist das eine völlig andere. Jaime hat sehr starke Motive, ein Exempel zu statuieren und mit Verbissenheit an einem neuen Bild von sich zu zimmern. Außerdem kommen noch andere Faktoren ins Spiel. Ich glaube, du weißt, was ich meine.«
Mit lautem Geknister kramt Marino weitere Servietten aus der Bojangles’-Tüte. Wir überqueren eine Brücke, die über den Little Ogeechee River führt.
»Ich hoffe nur, dass du vorsichtig bist«, setze ich meine Gardinenpredigt fort. »Ich werde dir nicht im Wege stehen, wenn du dich entscheidest, auch andere zu beraten und etwas an deinem Arbeitsverhältnis am CFC zu ändern. Doch in Sachen Jaime solltest du auf der Hut sein. Ist dir klar, warum es dir schwerfällt, ihr gegenüber eine objektive Haltung einzunehmen?«
Er wischt sich Mund und Finger ab, während wir über den Forest River fahren, wo Krabbenboote vor Anker liegen und Möwen sich auf einem langen Holzsteg versammelt haben.
»Es ist gefährlich, wenn sich Menschen ihrer wahren Beweggründe nicht bewusst sind. Mehr sage ich dazu nicht.« Ich erwarte nicht, dass er mich versteht oder sich überzeugen lässt.
Jaime streichelt sein Ego in einer Weise, die mir fernliegt, weil ich mich weigere, Spielchen mit ihm zu treiben. Ich bringe ihn nicht mit Charme und Schmeicheleien dazu, meine Wünsche zu erfüllen. Nein, ich bin unverblümt und ehrlich, was ihm meistens auf die Nerven fällt.
»Hör zu«, erwidert er. »Ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Mir ist klar, dass sie noch andere Dinge am Laufen hat. Lucy hat alles verkompliziert. Sie ist so schrecklich offenherzig. Ich erinnere mich noch, wie sie einfach in die Staatsanwaltschaft spaziert kam und sich benommen hat, als wäre die Sache zwischen den beiden nicht nur kein Geheimnis, sondern etwas, womit man angeben kann.«
Genau vor uns liegt die Savannah Mall, wo ich bei meinem letzten Besuch mit Colin Dengate in einem Fischrestaurant war. Wann mag das gewesen sein? Vielleicht
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