Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
bereits bei Sonnenaufgang heiß. Jetzt um acht werde ich in meiner schwarzen Arbeitskleidung und den schwarzen knöchelhohen Stiefeln förmlich gesotten, als ich auf einer Bank vor dem Hotel sitze und einen Becher eisgekühlten Kaffee aus dem nahegelegenen Starbucks trinke.
Die Glocke der City Hall kündigt mit melodischen, metallen widerhallenden Schlägen den ersten Julitag an, während mir ein Taxifahrer auffällt, der einen Fahrgast vor dem Hotel absetzt. Er ist grobknochig und wettergegerbt, hat die Hose bis fast unter die Achseln hochgezogen, trägt einen struppigen Vollbart und erinnert mich an Porträtaufnahmen aus der Zeit des Bürgerkriegs. Wahrscheinlich hat er sich nie weit vom Geburtsort seiner Ahnen entfernt und viel mit ihnen gemeinsam, wie ich es so oft bei Menschen in abgelegenen Orten beobachtet habe.
Ich denke an Kathleen Lawlers Bemerkungen zum Thema Genetik. Ganz gleich, wonach wir auch im Leben strebten, wir seien trotzdem der Macht der Biologie unterworfen. Obwohl ich diesen Ansatz recht fatalistisch finde, ist er nicht völlig von der Hand zu weisen, und als ich ihre Äußerungen zum Thema Vorherbestimmung und DNA Revue passieren lasse, bekomme ich das Gefühl, dass sie nicht nur von sich selbst gesprochen hat. Sie hat auch auf ihre Tochter angespielt. Kathleen hat mich vor Dawn Kincaid gewarnt. Vielleicht wollte sie mich auch einschüchtern. Angeblich hat sie keinen Kontakt zu ihr, was einer Anzahl von Quellen zufolge schlicht und ergreifend nicht stimmt. Kathleen weiß mehr, als sie verrät, und das, was sie uns verheimlicht, hat vermutlich mit den Gründen zu tun, warum Tara Grimm sie, etwa um die Zeit, als ich hierhergelockt wurde, in Einzelhaft verlegt hat. Ich komme zu dem Schluss, dass Jaime Berger eine Lawine losgetreten hat.
Und ich bin in die Sache verwickelt, und zwar nicht, weil ich mich freiwillig gemeldet hätte. Ich wurde zwangsrekrutiert, ja praktisch entführt. Dennoch werde ich die Ermittlungen unterstützen, so gut ich kann, und nicht wie geplant abreisen. Allerdings stößt es mir übel auf, dass Jaime mit den Menschen spielt, die mir am nächsten stehen. Ich glaube, dass sie Lucy, Marino und Benton in Gefahr bringt. Sie bedroht unser schon immer sehr verschlungenes, kompliziertes und zerbrechliches Beziehungsgeflecht.
Ich habe meine Hotelreservierung verlängert und ein Zimmer für Lucy gebucht. Sie und Benton sind bei Morgengrauen in einem Helikopter aufgebrochen, nachdem ich ihnen mitgeteilt habe, dass ich sie hier dringend brauche. Marinos weißer Transporter biegt in die Backsteinauffahrt des Hotels ein. Der Motor dröhnt zwar noch immer, aber wenigstens ruckelt und bebt das Auto nicht mehr. »Ich wusste nicht, ob du schon was gegessen hast«, sagt Marino, als ich die Autotür öffne. Mir fällt sofort auf, dass das Innere des Wagens um einiges sauberer ist als bei meiner letzten Fahrt. Es riecht nach Lufterfrischer mit Zitrusduft, Butter, frittiertem Steak und Eiern. »Ein paar Kilometer von hier am Hunter Army Airfield gibt es eine Bojangles’- Filiale. So hatte ich wenigstens einen Vorwand für eine Testfahrt. Das Auto ist so gut wie neu.«
»Bis auf die Kleinigkeit, dass eine Klimaanlage fehlt.« Beim Anschnallen bemerke ich die überquellende Tüte zwischen unseren Sitzen. Ich kurble das Fenster ganz hinunter.
»Dazu müsste ein neuer Kompressor rein. Aber was soll’s? Du würdest nicht glauben, wie billig ich die Kiste gekriegt habe. Daran, dass keine Klimaanlage da ist, gewöhnt man sich. Wie in der guten alten Zeit. In meiner Jugend hatten viele Autos keine.«
»Außerdem keine Sicherheitsgurte, keine Airbags, kein ABS, kein ESP und kein Navi«, entgegne ich.
»Ich habe dir ein einfaches Brötchen mit Ei mitgebracht. Aber sind auch welche mit Steak, Eiern und Käse da, falls du etwas mehr Hunger hast«, erwidert er. »Und da hinten steht eine Kühlbox mit Wasser.« Er weist mit dem Daumen auf die Rückbank. »Bei Bojangles’ nehmen sie kein Olivenöl, also wirst du damit leben müssen. Ich weiß, was du von Butter hältst.«
»Ich liebe Butter. Deswegen lasse ich ja die Finger davon. Aber offenbar warst du die ganze Nacht auf den Beinen. Wann hattest du denn die Zeit, die Kiste reparieren zu lassen und sie in die Wanne zu stecken?«
»Wie ich schon sagte, habe ich einen Mechaniker aufgetrieben. Ich habe seine Privatnummer. Wir haben die Lichtmaschine ausgetauscht, die Reifen ausgewuchtet, die Radkästen saubergemacht, die Zündkerzen angezogen, und
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