Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
war es bis zu meinem Gespräch mit Jaime nur so ein Wunschtraum. Sie hat mir vom Fall Lola Daggette erzählt und meinte, sie könne meine Hilfe gebrauchen. Ich fand das einen verblüffenden Zufall, so als ob das Schicksal seine Hand im Spiel gehabt hätte. In der gleichen Gegend, wo ich eine Wohnung gesucht habe. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit größer, als man im ersten Moment denkt, denn die meisten Bundesstaaten mit guten Bedingungen zum Angeln und Motorradfahren haben die Todesstrafe. Jedenfalls fand ich, dass sie recht hat und dass es eine gute Idee sein könnte, wenn ich mich selbständig mache.«
»Natürlich war es ihr Vorschlag.«
»Sie ist sehr klug, und es klang spannend. So kann ich meine Zeit ein bisschen besser einteilen, dort sein, wo ich sein möchte, und die Aufträge annehmen, bei denen ich am besten verdiene. « Er beißt noch einmal in das Brötchen. »Also habe ich mir gesagt: jetzt oder nie. Das ist deine Chance. Wenn du dein Leben nicht endlich in die Hand nimmst und zugreifst, bietet sich die Gelegenheit vielleicht nie wieder.«
»Hat Jaime dir Einzelheiten über das verraten, was in New York passiert ist? Über ihre Gründe zu kündigen?«, frage ich.
»Sie hat dir sicher erzählt, was Lucy getan hat.«
»Ich dachte, sie hätte Lucy dir gegenüber nicht erwähnt.« Ich wickle mein Eibrötchen aus. Obwohl ich normalerweise kein Fastfood esse und Marinos Sucht nach Frittiertem eindeutig nicht teile, habe ich plötzlich großen Hunger.
»Das hat sie auch nicht direkt«, erwidert Marino. Inzwischen sind wir auf dem Veterans Parkway und fahren in rascher Geschwindigkeit durch große Waldstücke. Der Himmel ist weit und von einem weißlichen Blau, das einen sengend heißen Tag verspricht. »Sie hat nur davon gesprochen, dass jemand die Sicherheitsvorkehrungen des Real Time Crime Center geknackt und dass man Jaime dafür die Schuld gegeben hat. Offizielle Vorwürfe gab es natürlich nicht, doch sie meinte, es seien Bemerkungen über das merkwürdige Zusammentreffen gefallen. Gerade zu der Zeit, als jemand ins Computernetz des NYPD eingebrochen sei, habe sie behauptet, die Kriminalitätsstatistik werde gefälscht. Und rein zufällig lebe sie auch noch in einer Beziehung mit einer bekannten Hackerin.«
»Bei Lucy klingt die Geschichte anders«, entgegne ich. »Sie sagt, es sei nicht das Real Time Crime Center gewesen, sondern ein Revier, wo man angeblich aus Kapitalverbrechen Ordnungswidrigkeiten und aus Einbrüchen groben Unfug gemacht hat.«
»Das ist schlimm genug.«
»Ich habe keine Ahnung, worauf sie sich da eingelassen und wie sie es angestellt hat, aber ja, es ist schlimm genug. Allerdings finde ich es noch schlimmer, dass man Lucy als bekannte Hackerin bezeichnet. Denken die Leute wirklich so über sie?«
»Verdammt, Doc, sie wird es immer wieder tun«, antwortet Marino. »Wenn sie in ein System reinkommen kann, kommt sie rein, und es gibt nur wenige, an denen sie scheitert. Wir beide wissen das inzwischen. Warum uns also vormachen, dass sich daran je etwas ändern wird? Vielleicht wäre ich ja genauso, wenn ich ihre Fähigkeiten hätte. Man tut, was nötig ist, einfach, weil man es kann. Gesetze sind wie Slalomstangen auf einer steilen Piste. Etwas, das man umrundet, und je mehr davon da sind und je höher der Schwierigkeitsgrad, desto interessanter für Lucy.«
Ich schaue aus dem offenen Fenster hinaus auf hellbraune Marschen und gewundene Flussmündungen. Die heiße Luft weht den Geruch des Schlamms herein, der an faule Eier erinnert.
»Außerdem kümmert es Lucy einen Scheiß, was die Leute von ihr halten.« Es knistert, als er das Einwickelpapier seines Brötchens zusammenknüllt.
»Klar, sie wiegt einen gern in diesem Glauben. Aber sie nimmt sich viele Dinge mehr zu Herzen, als man denkt. Auch Jaimes Verhalten.« Ich beiße in mein Brötchen. »Ich weiß, ich werde es bereuen, doch es schmeckt.«
»Den Mist, über den Lucy sich Sorgen macht, kann niemand beweisen. Niemand ist beschuldigt worden, und es wird auch nicht so weit kommen. Jaime ist für immer raus aus der Staatsanwaltschaft, was heißt, dass Leute wie Farbman ihr Ziel erreicht haben. Wahrscheinlich fühlt er sich jetzt, als hätte er im Lotto gewonnen.«
»Auf Jaime trifft das eindeutig nicht zu, so standhaft sie auch das Gegenteil beteuert.«
»Sie scheint mit der momentanen Situation recht zufrieden zu sein.«
»Das glaube ich nicht.«
»Sie ärgert sich nur über die Vorgeschichte, weil sie
Weitere Kostenlose Bücher