Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
hiermit bindend. Das könnte erklären, warum der Staatsanwalt mir ganz bewusst keine Steine in den Weg legt. Nach dem Ende der Ermittlungen sind die Unterlagen einsehbar, und als ich den Gedankengang weiterverfolge, schießt mir durch den Kopf, dass Tucker Ridley, der oberste Staatsanwalt von Chatham County, offenbar kein Interesse mehr am Fall Lola Daggette hat. Obwohl Jaime eine neuerliche Untersuchung der Beweisstücke veranlasst hat, hat Tucker Ridley einen Schlussstrich unter die Sache gezogen, nachdem Lola Daggette sämtliche Berufungsinstanzen durchlaufen hatte und der Gouverneur sich weigerte, das Urteil in eine lebenslange Haftstrafe umzuwandeln.
»Ist er immer so schwierig?«, fragt Mandy, und mir wird klar, dass sie Marino meint.
»Nur, wenn er einen mag«, antworte ich, während ich über das Thema öffentliche Wahrnehmung nachdenke. Nur aus reinem Mutwillen wird sich der Staatsanwalt einem Menschen mit meinem Rang und Ruf sicher nicht in den Weg stellen. Also hat er den Kolonialwarenladen geöffnet und mich aufgefordert, mich zu bedienen. Warum? Weil es keine Rolle mehr spielt. Was Tucker Ridley betrifft, hat Lola Daggette an Halloween eine Verabredung mit dem Tod. Und er hat keinen Grund zu der Annahme, dass sie ihn versetzen wird. Oder trifft vielleicht das Gegenteil zu?
Die neuen DNA-Befunde könnten durchgesickert sein. In diesem Fall wäre es gleichgültig, welche Unterlagen ich zu Gesicht bekomme, weil Lolas Urteil ohnehin bald aufgehoben wird. Möglicherweise ist meine zweite Befürchtung ja auch begründet. Dawn Kincaid weiß, dass man sie in Georgia wegen weiterer Morde vor Gericht stellen wird und dass sie hier, anders als in Massachusetts, die Todesstrafe riskiert. Also schmiedet sie Pläne, zum Beispiel für die Flucht aus einem Bostoner Krankenhaus, wo ganz sicher eine niedrigere Sicherheitsstufe herrscht als in einer forensischen Einrichtung wie dem Butler Hospital.
»Er versuche nur herauszufinden, wer dabei war, als ihre Leiche eingeliefert wurde«, setzt Marino Mandy O’Toole weiter zu. »Denn etwas stört mich an dem Fall. Irgendetwas ist da faul. Und dass eine Histologin um neun Uhr abends noch arbeitet, ist auch ein wenig ungewöhnlich.«
»An dem Abend, als Barrie Lou Rivers starb, war ich noch lange im Büro, weil der Abgabetermin für einen Zeitschriftenartikel über verschiedene Typen von Haftmitteln anstand. Als Colin den Anruf vom Gefängnis bekam, war ich noch hier. Gleich am Ende des Flurs«, erwidert sie. »Ich habe ihm angeboten zu bleiben, seinen Tisch vorzubereiten und ihm zur Hand zu gehen. Aber ich war keine Zeugin.«
»Was ist mit Gerüchten?«, beharrt Marino. »Darüber, was ihr angeblich zugestoßen ist?«
»Ursprünglich dachte man, Barrie Lou Rivers wäre an ihrer Henkersmahlzeit erstickt. Doch darauf gab es keine Hinweise. In letzter Zeit habe ich nichts Neues gehört. Niemand hat mehr über den Fall geredet, bis Jaime Berger ihn wieder aufgegriffen hat. Ich würde Ihnen ja gern Wasser oder Kaffee anbieten, aber ich darf den Raum nicht verlassen. Wenn Sie etwas möchten, geben Sie mir nur Bescheid, dann rufe ich an.« Das sagt sie, an mich gewandt. »Wenn Sie etwas möchten« – sie lächelt Marino zu und setzt die Ohrhörer wieder ein –, »können Sie es sich selber holen.«
»Suze hat mir etwas Interessantes über Barrie Lou Rivers’ Kohlenmonoxidwert erzählt«, teilt Marino mir mit, während er immer wieder zu Mandy hinüberschaut. »Er betrug etwa acht Prozent. Normal seien höchstens sechs.«
»Ist das wirklich so interessant?«, entgegne ich und überfliege dabei das Protokoll einer Anhörung vor dem Begnadigungsausschuss, bei der Colin Dengate und GBI-Ermittler Billy Long ausgesagt haben. »Dazu muss ich mir ihre Akte ansehen. Bei einer Raucherin wäre das nicht weiter ungewöhnlich.«
»Man darf im Gefängnis nicht mehr rauchen. In keinem, das ich kenne. Es ist schon seit Jahren verboten.«
»Ja, genau wie Drogen, Alkohol, Bargeld, Mobiltelefone und Waffen«, erwidere ich und werfe einen Blick in die Schilderung der Vorgänge in den frühen Morgenstunden des 6. Januar 2002. »Sie hätte vom Wachpersonal eine Zigarette bekommen können. Gegen Vorschriften kann man verstoßen, wenn man die Macht dazu hat.«
»Rauchen könnte eine Erklärung für den Kohlenmonoxidwert sein. Aber weshalb hätte ihr jemand eine Zigarette geben sollen?«
»Wir wissen nicht, ob es so war. Doch es ist eine Tatsache, dass das in Zigaretten enthaltene
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