Blut für Blut: Thriller (German Edition)
unter dem Arm in ihr Wohnzimmer. Sie bot ihm Rotwein oder Kaffee an, er entschied sich für Kaffee, und während sie ihn kochte, schlenderte er durch ihre Wohnung, als wäre er hier zu Hause. Warf einen Blick in das Bücherregal, auf das Gemälde über dem Sofa, in ihr Arbeitszimmer, das sie nie benutzte und in dem nur ein Schreibtisch und ein Stuhl standen, und ins Schlafzimmer mit ihrem Lieblingsplatz. Sie fand ihn im Esszimmer, wo er die Fotografie von Robin in dem kleinen Silberrahmen auf der Fensterbank betrachtete. Das Bild war das letzte, das von ihrem Bruder gemacht worden war, bevor er starb. Er lächelte mit seinen fehlenden Vorderzähnen keck in die Kamera. Niclas drehte sich mit dem Bild in der Hand zu ihr um und meinte: »Ich wusste gar nicht, dass du ein Kind hast …?«
Sie musste über sein verblüfftes Gesicht lächeln und nahm ihm das Foto aus der Hand.
»Das habe ich auch nicht. Das ist nicht mein Sohn, das ist mein kleiner Bruder – Robin. Er ist vor vielen Jahren gestorben.«
»Gestorben. Wieso ist er gestorben?«
Niclas rückte näher an sie heran, und sie spürte die Wärme seines Körpers, obwohl sie sich nicht berührten. Sie merkte den wohlbekannten Kloß im Hals, der immer auftauchte, wenn sie von Robin erzählen sollte.
»Er ist im Meer ertrunken. Ich hatte meiner Mutter versprochen, gut auf ihn aufzupassen, bevor wir zum Strand gegangen sind. Das ist nächsten Monat achtundzwanzig Jahre her, und er fehlt mir noch immer.«
Sie drückte die Fotografie an ihre Brust. Es konnten Tage vergehen, an denen sie dem Bruder nicht einen Gedanken schenkte, und trotzdem hatte sie ständig das Gefühl, dass er bei ihr war, gleichgültig, wo sie sich befand und was sie gerade tat. Wie eine Art Schutzengel. Sie hatte nie jemandem von diesem Gefühl erzählt, nicht einmal Dorte oder Michael, und plötzlich erwischte sie sich dabei, wie sie mit einem fast Fremden darüber sprach. Niclas sah sie aufmerksam an. Dann nickte er ruhig.
»Du hast Glück, so einen Schutzengel zu haben. Das Leben ist leichter zu ertragen, du bist nie wirklich allein.«
Er lachte sie nicht aus, seine Stimme war eher sanft und vertraulich, und sie sah überrascht zu ihm hoch. Er machte ansonsten einen so coolen Eindruck, und trotzdem hatte er genügend Tiefgang, um zu verstehen, was sie meinte. Sie freute sich im Stillen darüber, dann kochte in der Küche das Wasser, der Kaffee war fertig. Sie stellte den Rahmen schnell zurück auf die Fensterbank und ging in die Küche.
Sie setzten sich an den Esstisch und holten Papier und Kugelschreiber heraus. Niclas fischte seinen Laptop aus der Tasche und schaltete ihn ein. Er sah sie mit glühendem Blick an.
»Wir haben das psychologische Profil des Täters.«
»Super.« Rebekka pfiff leise. Es kam nur selten vor, dass man in Dänemark mit Täterprofilen arbeitete, doch in sehr schweren Fällen wie Mord und Vergewaltigung konnte ein psychologisches Profil der Polizei einen Tipp geben, nach welchem Typ Täter sie suchen mussten. Für das Täterprofil wurden alle Informationen in Zusammenhang mit einem Verbrechen, das heißt Berichte, Fotos, Übersichtskarten und technische Untersuchungen, analysiert, um ein Bild zu zeichnen, mit welchem Typ Täter sie es zu tun hatten. Ging es um Vergewaltigung, teilte man die Gewaltverbrecher grob gesagt in fünf Kategorien ein. Rebekka hatte beim FBI in den USA so viel über Profiling gelernt, dass sie genau wusste, welcher Kategorie der Serienvergewaltiger zuzuordnen war, und sie konnte es nicht lassen, mit ihrem Wissen zu glänzen: »Der Mann, nach dem wir suchen, gehört zum aggressiven und vergeltenden Typ. Dieser Typ ist gefährlich. Er geht sehr brutal vor und würgt seine Opfer oft, genau wie er häufig unter Alkoholeinwirkung steht, wenn er die Vergewaltigungen begeht. Er sucht sich immer Frauen, die ihn an eine Frau erinnern, die ihn früher einmal verletzt hat.«
Niclas nickte zustimmend, öffnete den Bericht und las laut: »Mit Hinblick auf die Verbrechen ist die Profilergruppe der Meinung, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den einzelnen Taten besteht. Das lässt sich unter anderem damit begründen, dass die Tatorte gleich sind, es handelt sich um einsame Plätze, oft in der Nähe eines Parks oder Sees. Die Verbrechen werden an Freitagen und Samstagen begangen in der Zeit zwischen zwei und vier Uhr morgens, die Opfer sind gleich alt und sehen einander ähnlich, der Täter greift alle von hinten an, er schlägt sie
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