Blut für Blut: Thriller (German Edition)
Albtraum gewesen. Das Telefon hatte in immer kürzeren Abständen geklingelt, und trotzdem war er jedes Mal in der Hoffnung drangegangen, dass sich die Person am anderen Ende zu erkennen gab. Was jedoch nicht der Fall war, der-oder diejenige sagte kein Wort, nur ein schwaches Atmen war zu hören, und der Laut machte ihm eine solche Angst, dass er am ganzen Körper zitterte.
»Was wollen Sie, warum tun Sie mir das an?«, hatte er mit zitternder Stimme gerufen, doch niemand hatte ihm geantwortet, der Hörer war lediglich aufgelegt worden. Erneut.
Plötzlich hörte das Klingeln auf, und Tibor steckte den Kopf unter der Decke hervor. Das war neu, normalerweise ging es weiter, bis er sich meldete. Er wartete, die Minuten verstrichen, und er wollte gerade frei durchatmen, als das Telefon wieder zu klingeln begann.
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Sie hatten mehrere Stunden Dortes und Hans-Davids Beziehung analysiert, und irgendwann hatte Dorte sich die Augen trocken gewischt und die Debatte damit beendet, dass sie vor der Stereoanlage getanzt und Thomas Helmigs alten Song mitgesungen hatte: Ich stehe hier draußen und klopfe an.
Rebekka sah ihr lachend vom Sofa aus zu, und Dorte ließ sich leicht außer Atem neben sie fallen. Sie lehnte den Kopf zurück auf die Sofalehne und schloss die Augen.
»Ich hoffe bloß, dass nicht irgendjemand daherkommt und sagt, dass das so am besten ist … oder dass es meant to be war, falls Hans-David und ich uns scheiden lassen. Manche Menschen werfen die ganze Zeit mit diesem New-Age-Scheiß um sich. Falls Hans-David und ich uns trennen, ist das Scheiße, und darunter werden wir und nicht zuletzt unsere Kinder noch lange leiden.« Sie öffnete ein Auge und schaute Rebekka an, die ganz genau verstand, was sie meinte.
»Dass alles einen Sinn hat, dass aus jedem Scheiß etwas Gutes entsteht und all das. Das ist so, als dürfte man nicht länger trauern, die kalte Dusche nicht annehmen, das dunkle Wasser nicht spüren und sich langsam wieder an die Oberfläche arbeiten. Das Leben ist voller Dinge, die für nichts gut sind. Was lernt man daraus, sein kleines Kind zu verlieren? Seinen Geliebten, seinen Körper an eine Krankheit, seinen Verstand? Nichts. Daran ist nichts Gutes, und ich kann richtiggehend wütend werden, wenn die Leute versuchen, in so etwas einen Sinn hineinzuinterpretieren. Wenn ich bei der Arbeit mit einem toten Kind im Arm dastehe, soll ich dann den Eltern des Kindes vielleicht erzählen, dass sie das auf lange Sicht stark machen wird?«
Rebekka nickte nachdenklich, genau wie Dorte hatte sie täglich mit Missbrauch, Krankheit, Gewalt und Tod zu tun.
»Das Leben ist im Grunde genommen sinnlos, nur wir in der westlichen Welt müssen partout einen Sinn in allem sehen, wir ertragen die Sinnlosigkeit nicht, den Kontrollverlust. Das macht uns Angst, und deshalb erfinden wir eine Menge Regeln, die Kontrolle signalisieren, und trotzdem haben wir nicht die totale Kontrolle über unser Leben, und das macht Angst – uns allen.«
»Genau – und ich bin verdammt hungrig.« Dorte stand auf, die Weinflaschen waren leer, und sie stapfte hinaus in die Küche und kam kurz darauf mit Mineralwasser und Wein und einer großen Schale mit Süßigkeiten zurück.
»Die waren eigentlich für die Kinder bestimmt. Aber was soll’s. Ich kaufe ihnen morgen neue.«
Rebekka lachte und machte sich darüber her.
»Das wäre für mich am schwierigsten, wenn ich Mutter wäre«, sagte sie, den Mund voller Süßigkeiten.
»Was?« Dorte schenkte ihnen Wein nach.
»Die Süßigkeiten. Ich würde ihnen alles wegessen, wenn sie schliefen, alle Leckereien von den Birkenzweigen plündern, die es zu Karneval gibt, das Osterei leerfuttern. Du weißt schon, so eine Mutter, die zu viel vom Eis nimmt, den Kindern das kleinste Stück Kuchen gibt und so weiter.«
Rebekka schob sich noch eine Hand voll Weingummi in den Mund, um ihre Worte zu unterstreichen, und Dorte lachte laut und vergoss Wein auf dem Sofatisch aus hellem Holz, einem Erbstück aus Hans-Davids Familie, das er besonders gern hatte.
»Ach, Scheiße«, grinste sie und schwang die Beine auf das Sofa. Sie lachten beide, und im nächsten Moment liefen Dorte die Tränen die Wangen hinunter, und Rebekka legte ihr schnell die Arme um den zitternden Körper.
»Verdammt. Ich weigere mich, eine Zahl in der Scheidungsstatistik zu werden, Bekka. Warum muss ich so enden? Wie alle anderen. Das ist so vorhersehbar!«
»Ihr habt eine Krise, Dorte. Das ist normal, wenn man lange
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