Blut für Blut: Thriller (German Edition)
zusammen ist. Ihr müsst euch nur wieder neu definieren, wer ihr seid, was ihr wollt und warum. Ich will die Situation nicht herunterspielen, aber ich bin mir völlig sicher, dass ihr wieder zusammenfindet.«
Dorte seufzte laut und zündete sich eine Zigarette an, während sich die Nacht still und leise verzog.
»Genau, das müssen wir. Ich weigere mich einfach, eine Teilzeitmutter zu werden. Das muss doch ein seltsam schizophrenes Leben sein, die eine Woche jung und Single, die nächste Mutter mit der Verantwortung für alles. Das will ich nicht. Prost.«
DIENSTAG, 16. MAI 1989
Liebes Tagebuch
Ich bin unsichtbar geworden.
Ich laufe in aller Öffentlichkeit in Charlottes Sachen herum, ich benutze ihre hellrote Handcreme mit Rosenduft, ich sprühe mich mit ihrem teuren Parfüm ein – Calvin Klein Eternity –, von dem ich nicht einen einzigen Spritzer an mir testen durfte, als sie noch lebte.
Mutter und Vater sagen nichts dazu, niemand sagt etwas. Niemand sagt überhaupt was.
Mutters Sachen hängen lose um ihren Körper, ihr Gesicht ist faltig geworden und gehört einer anderen. Sie hat wieder angefangen zu rauchen. Vater arbeitet die ganze Zeit, und wenn er endlich zu Hause ist, sitzt er mit der Rotweinflasche vor dem Fernseher. Er sieht Nachrichten, Naturprogramme, Quizsendungen und Dokumentationen, doch sein Gesichtsausdruck ändert sich nicht, egal, was er sieht. Als trüge er eine Maske.
Wenn wir zu Abend gegessen haben, gehe ich in mein Zimmer, Mutter ruht sich im Schlafzimmer aus, und Vater und der Rotwein bleiben im Wohnzimmer. Wir sagen uns nicht mehr Gute Nacht. Wir leben parallele, wortlose Leben.
Søs
SAMSTAG, 28. JUNI
Rebekka blinzelte kräftig und setzte sich verwirrt auf, als ihr Handy sie weckte. Draußen war es hell, die Vögel sangen, und sie war nicht zu Hause in ihrem Bett, sondern lag stattdessen unter einer Decke auf Dortes Sofa. Es war spät geworden, und obwohl sie sich mit Alkohol zurückgehalten hatte, hatte sie es nicht mehr geschafft, nach Hause zu fahren, sondern sich nur auf dem Sofa zusammengerollt, hatte nur noch schlafen wollen. Auf dem Tisch standen ihre Gläser, eine leere Weinflasche und eine halb ausgetrunkene Flasche Whisky. Hatten sie Whisky getrunken? In der Süßigkeitenschale lag noch ein Lakritz, den sie sich in den Mund stopfte. Der süße Geschmack war trotz allem besser als der saure Rotweingeschmack. Sie stand steif auf und suchte nach dem Telefon in ihrer Tasche. Die Nummer war unterdrückt. Es war 8.39 Uhr morgens.
»Ja«, meldete sie sich verdrossener als beabsichtigt und bereute es sofort.
»Rebekka. Bist du das, Rebekka?« Die Stimme war tief und singend. Niclas.
»Natürlich bin ich das«, antwortete sie müde und unterdrückte ein Gähnen.
»Ich stehe vor dem Reichskrankenhaus. Die Ärzte haben angerufen. Trine Rasmussen ist aufgewacht. Wir können sie vernehmen.«
»Ja.« Rebekka stutzte. Warum rief Niclas sie an? Das war nicht ihre Ermittlung, obwohl sie zugeben musste, dass sie sich immer mehr involviert fühlte.
Der Schwede war eifrig, er sprach schnell, und sie musste sich anstrengen, ihn zu verstehen. Er und Super waren auf dem Weg ins Reichskrankenhaus gewesen, als Super plötzlich Magenschmerzen bekommen hatte, und jetzt war der ältere Ermittler im Traumazentrum, wo er gerade untersucht wurde. Vermutlich hatte er eine Gallenkolik.
»Ich habe gedacht, dass du vielleicht herkommen und die Befragung von Trine Rasmussen übernehmen könntest. Ich bin möglicherweise schwer zu verstehen, und euer Dänisch … Sie fühlt sich bestimmt auch besser, wenn eine Frau dabei ist.«
Rebekka zögerte. Sie hatte sich mit Brodersen um halb elf im Präsidium verabredet, um zusammen mit ihm zu Haleema und Ali Hamad hinauszufahren. Aber wahrscheinlich schaffte sie beides, und sie musste zugeben, dass die Vergewaltigungsermittlung sie sehr interessierte.
»Ich komme«, hörte sie sich klar und laut antworten. Sie rannte die Treppe hinauf und fand Dorte im Schlafzimmer, schnarchend und völlig angezogen. Rebekka brachte es nicht über das Herz, sie zu wecken, sie schrieb ihr nur einen Zettel und legte ihn auf den Küchentisch, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, schmierte etwas Zahnpasta auf den Finger und fuhr damit zwischen den Zähnen herum, gurgelte und borgte sich etwas Deodorant, eine Haarbürste und etwas Mascara. Dann war sie fertig.
Dorte wohnte nur wenige Minuten vom Reichskrankenhaus entfernt, und Rebekka fuhr in dem zarten Morgenlicht
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