Blut für Blut: Thriller (German Edition)
Hand nach der Schale mit Keksen aus. »Wir sind wohl vornehm geworden, was?« Sie warf Leon Rothenborg einen wissenden Blick zu, der schnell zustimmend nickte. »Balthazar ist mindestens ebenso hübsch wie Gaston«, räumte er ein, und Anne spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Typisch, dass Leon zu Margrethe hielt. Sie verstand nicht, dass sie nicht sahen, was sie sah, nämlich dass Balthazar ein alter, hässlicher und mürrischer Hund war, der sich weder etwas aus anderen Hunden noch aus Menschen machte. Anne seufzte leise, und plötzlich vermisste sie Kissi heftig. Kissi hätte sie verstanden. Kissi hatte gewusst, dass sie seit Jahren von dieser Paarung träumte und wie wichtig es deshalb war, dass Chanel Junge mit einem sorgfältig ausgewählten Rüden bekam. Die Diskussion ging weiter, sie waren inzwischen bei den Kosten des Nachwuchses angekommen, und Anne hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Sie konnte das Geld auch für etwas ganz anderes verwenden, für eine Reise zum Beispiel. Anne war nicht mehr in Urlaub gewesen, seit ihr Sohn Martin geboren worden war. Davor war sie auf Mallorca und Kreta sowie in London gewesen, doch nach der Geburt des Jungen war für diese Art Luxus kein Geld mehr da. Martin war gerade einundzwanzig geworden, er leistete seinen Wehrdienst in Afghanistan ab, und obwohl er sein eigenes Geld verdiente, bat er sie hin und wieder um ein kleines Darlehen. Sie mochte ihn nicht enttäuschen und tat alles, seinen Bedürfnissen entgegenzukommen, was dazu führte, dass sie nur selten Geld für sich selbst hatte. Sie ging nie aus, weder ins Kino noch ins Theater. Stattdessen saß sie mit Chanel zu Hause vor dem Fernseher, wo sie Abend für Abend in den vielen Serien und Talkshows Ersatz für ihr Leben suchte. Der schlimmste Zeitpunkt des Abends war der, wenn sie sich zwang, ins Bett zu gehen und die Geräusche aus den Nachbarwohnungen durch die dünnen Wände zu ihr herüberdrangen und sie daran erinnerten, dass alles hätte anders sein können. Genau deshalb würden Welpen ihr Leben bereichern. Sie seufzte erneut, diesmal laut.
»Anne, du seufzt ja so.« Leon sah sie besorgt an.
Die anderen schwiegen, und sie wand sich unter ihren bohrenden Blicken.
»Ich finde das hier nur so seltsam – ohne Kissi«, stammelte sie und zwang sich, die anderen anzusehen.
»Ich bin noch immer so schockiert, dass es mir schwerfällt, darüber zu reden. Es ist so unwirklich, das habe ich auch der Polizei gesagt.« Margrethe Heinesen stopfte sich den Mund mit Keksen voll, und die Hunde, die den plötzlichen Stimmungsumschwung im Zimmer spürten, winselten unruhig unter dem Esstisch. »Seid ihr von der Polizei befragt worden?«, fügte sie mit vollem Mund hinzu, und Leon Rothenborg nickte ernst, während Tibor sie entsetzt ansah.
»Du siehst total verstört aus, Tibor. Was ist los?«, fragte Leon. Alle drei blickten ihn forschend an.
Tibors dunkle Haut war blass, er hatte dunkle Ringe unter den Augen. »Sie haben mich stundenlang verhört, sie haben mich richtig hart rangenommen, haben mich immer wieder nach meiner Beziehung zu Kissi gefragt, als hätte ich etwas mit dem Mord zu tun.«
Tibor sah sie so gequält an, dass Annes Hals ganz trocken wurde. Glaubte die Polizei etwa, dass der Mörder aus ihrer Gruppe kam? Aus dem Cairnklub? Das war mehr als unwahrscheinlich, sie hatten Kissi schließlich alle sehr gemocht, sie war ihr natürlicher Mittelpunkt gewesen. Anne sah Tibor forschend an. Wer war dieser Mann eigentlich? Wenn sie näher darüber nachdachte, konnte sie gut verstehen, dass die Polizei sich gerade für ihn interessierte. Kannten sie ihn eigentlich wirklich? Ein Serbe, ein Flüchtling aus dem früheren Jugoslawien, hatte er erzählt, als er sich vor bald fünf Jahren auf dem Kastell ihrer Gruppe angeschlossen hatte. Kissi hatte ihn mit offenen Armen aufgenommen, und ihre Begeisterung für Tibor hatte die anderen ihre Vorbehalte aufgeben und ihn ohne große Proteste in die Gruppe aufnehmen lassen. Er sprach noch immer gebrochen Dänisch, obwohl er seit vielen Jahren in Dänemark lebte, und er machte einen wunderlichen Eindruck, sprach nur selten über sich. Hatte er überhaupt Familie, Freunde, etwas anderes als die Hundegruppe? Anne spürte Tibors Blick auf sich ruhen, und ihr lief ein Schauer den Rücken hinunter. Seine schwarzen Augen hatten etwas Unheimliches, und wenn sie genauer darüber nachdachte, hatte sie sich in seiner Gegenwart immer unwohl gefühlt. Sie musste daran denken, wie
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