Blut für Blut: Thriller (German Edition)
Østerbrogade hätte leisten können.
Sie riss die Haustür auf und trat auf die verlassene Stockholmsgade hinaus. Die Nacht war spiegelblank und dunkel, nur ein blasser Halbmond leuchtete vom Himmel. Mit langen, zielbewussten Schritten ging sie die Straße entlang. Der Park Østre Anlæg lag auf der anderen Straßenseite, eine Wildnis aus dichtem Gebüsch und hohen Bäumen. Trine schauderte, sie hatte die Dunkelheit noch nie gemocht, doch sie würde das Gesicht verlieren, wenn sie wieder zurückginge. Deshalb zwang sie sich, weiterzulaufen und an etwas anderes zu denken. Sie konnte nicht länger zu Hause wohnen, sie musste etwas anderes finden. Sofort. Sie hatte ihre beste Freundin gefragt, ob sie nicht versuchen sollten, zusammen eine Wohnung zu finden, doch die Freundin hatte lieber um die Welt reisen wollen. Trine seufzte tief und merkte, dass sie in ihrem dünnen Cardigan fror. Sie hätte ihre Jacke anziehen sollen, doch tagsüber schien die Sonne so warm, dass es schwer zu begreifen war, dass die Nächte noch immer kühl waren. Sie hatte die Ecke Stockholmsgade/Sølvgade erreicht. Sie blieb kurz stehen und sah sich um. Sie war ganz allein, aber es war auch fast zwei Uhr nachts. Sie überlegte, ob sie ihre Freundin Signe anrufen konnte, die nahe Nyboder wohnte, ließ den Gedanken jedoch schnell wieder fallen. Stattdessen würde sie einen langen Spaziergang durch die Stadt machen.
Sie ging den Bürgersteig am Park entlang, Bäume und Büsche schirmten ihn zur Sølvgade hin ab. Vor diesem Stück hatte sie Angst gehabt, seit sie klein war. Sie ging schnell und schlang die Arme um sich in dem Versuch, sich warm zu halten. Durch das dichte Gebüsch konnte sie auf der Straße ein Taxi erahnen, und in der Ferne heulte eine Sirene, als sie Schritte hinter sich hörte. Schnell drehte sie den Kopf herum, um zu sehen, wer das war. Einige Meter hinter ihr ging eine dunkle Gestalt, doch sie konnte die Person nicht deutlich erkennen. Es bestand jedoch kein Zweifel, dass es ein Mann war. Trine fühlte, wie ihr Puls beschleunigte, und sie ging noch schneller. Einige Sekunden waren in der dunklen Nacht außer ihrem hastigen Atem nur die Schritte auf dem Asphalt hinter ihr zu hören. Sie war fast am Fußgängertunnel vorbei, der zum Botanischen Garten hinüberführte, als sie einen Schlag auf den Hinterkopf erhielt, der sie nach vorn auf den harten Asphalt stürzen ließ. Ihr Gesicht platzte auf, als sie aufschlug, und sie spürte, wie Zähne brachen und ausfielen. Sie fühlte einen weiteren Schlag und verlor kurzzeitig das Bewusstsein, kam jedoch benommen wieder zu sich, als sie mit festem Griff hochgerissen wurde. Ihre Brust fühlte sich an, als wollte sie zerspringen, sie konnte nicht richtig atmen, und Adrenalin pumpte durch ihren Körper. »Du kleine Misthure.« Die Stimme klang seltsam guttural und ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Verzweifelt trat sie mit den Beinen aus und hörte den Angreifer laut aufschreien, als sie ihn traf. Sein Griff lockerte sich, und sie wollte sich gerade losreißen, als sie seine Hand fest um ihre Kehle spürte und alles um sie herum in Dunkelheit versank.
SAMSTAG, 23. JULI 1988
Liebes Tagebuch
Ich träume den gleichen Traum, immer wieder. Ich laufe, ich bin ihm fast auf den Fersen, ich habe ihn fast erwischt – doch dann wache ich auf, und er entkommt mir … Nie gelingt es mir, sein Gesicht zu sehen.
Ich blättere in Charlottes Fotos, in ihrem blauen Buch – mit zitternden Fingern –, ich studiere jedes einzelne Gesicht in ihrem Umkreis, präge es mir ein, eins nach dem anderen – ist er einer von ihnen?
Gestern war die Polizei hier. Sie kommen hin und wieder vorbei und sitzen in unserem Wohnzimmer und reden und äußern ihr Bedauern, dass sie noch niemanden festgenommen haben. Wir sollen Geduld haben, es wird schon werden.
Sie geben nicht auf, sagen sie.
Das tue ich auch nicht.
Niemals.
Das verspreche ich dir, Charlotte.
Søs
DIENSTAG, 24. JUNI
Die Morgensonne fiel auf Rebekkas Gesicht, sie schlug verwirrt die Augen auf und schaute auf die Uhr. Es war erst kurz nach sechs, sie hatte am Vorabend offenbar vergessen, die Jalousien herunterzulassen. Sie versuchte etwas zu dösen, doch die Erinnerung an den gestrigen Abend, an Michael, Bettina und Mallorca, kam mit voller Kraft zurück, und sie wusste, dass nur eine Joggingrunde ihr die Unruhe etwas nehmen konnte. Sie zog ihre Laufsachen an, trank ein Glas Wasser, steckte sich die Kopfhörer ihres iPod in die Ohren und
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