Blut im Schnee
Aber gestritten hat dort an dem Abend niemand und der Mann war ein gern gesehener Gast.“
„Aha.“
„Dadurch, dass ich alles mitgehört habe, brauchte ich die Bedienung nicht auch noch auszufragen. Was jedoch interessant wurde, war das Gespräch zwischen zwei weiteren Gästen. Der eine erzählte dem anderen, es gäbe einen Zeugen, der den Täter gesehen hat.“
„Glaubst du, da ist was dran?“, fragte Thorsten misstrauisch und nahm zwei Tassen aus dem Schrank.
„Ich muss es nicht glauben, ich weiß es. Es gibt eine Zeugenaussage. Von dem Abend, an dem wir uns im Havanna getroffen haben und an dem anschließend der Mord passierte. Das Opfer wurde verfolgt.“
„Wirklich wahr? Dann hatte ich vielleicht doch kein Hirngespinst, als ich mich beobachtet gefühlt habe.“
„Vermutlich nicht. Und weil wir zusammen raus sind, hat es sich der Beobachter wohl anders überlegt.“
Thorsten lehnte sich am Küchenschrank an. Allein die Vorstellung, es hätte ihn am besagten Abend erwischen können, ließ ihn frösteln. Sein Herz schlug heftig in seiner Brust und seine Knie zitterten, weshalb er sich festhalten musste. War er tatsächlich dem Tod gerade noch so von der Schippe gesprungen? Vermutlich würde er darauf nie eine Antwort bekommen.
„Außerdem steht dir ja nicht auf der Stirn geschrieben, dass du schwul bist. Weshalb solltest du also ins Visier des Killers geraten, wo du doch auch nicht auf dieser Website angemeldet bist?“
„Es fühlt sich trotzdem so an, als hätte es mich treffen können.“
„Wenn du das so siehst, stand ich vielleicht auch auf der Liste der potenziellen Opfer – tue ich immer noch. Auch wenn ich nicht wüsste, wie ich die Aufmerksamkeit des Mörders auf mich gezogen haben könnte.“
Darauf wusste er nichts zu erwidern. Der Wasserkocher schaltete sich mit einem lauten Knacken ab und Thorsten füllte beide Tassen. Er griff sie am Henkel und setzte sich zu Enrique an den Tisch.
„Ich nehme an, dieser Zeuge konnte sagen, wie der Verfolger aussah?“
„Nur in etwa. Fürs Erste würde ich aber vermeiden, abends alleine in der Stadt unterwegs zu sein.“
„Ich hatte nicht vor, irgendwo hinzugehen“, erwiderte Thorsten. „Vielleicht solltest du dir den Ratschlag aber auch zu Herzen nehmen, sonst könntest du tot sein, ehe du von mir die volle Bezahlung erhältst.“ Es sollte wie ein Scherz klingen, doch das misslang kläglich.
„Mach dir da mal keine Gedanken.“ Enrique schnaubte. „Erstens: Ich lasse nie mein Essen oder meine Getränke unbeobachtet. Somit kann mir keiner ein Betäubungsmittel unterjubeln.“
„Du meinst K.o.-Tropfen?“
„Ja. Laut Polizeiakten wird Midazolam verwendet, ich dachte, das wüsstest du?“
„Hmm, ich glaube, der Kommissar erwähnte es“, entgegnete Thorsten. Ein Gedanke schob sich in den Vordergrund, doch den verwarf er sofort wieder, da er viel zu abwegig erschien. Midazolam verwendete man in Kliniken, das wusste er, und Thorsten kannte jemanden, der in einer solchen arbeitete. Kathrin. Allerdings glaubte er keine Sekunde, dass sie etwas mit den Morden zu tun haben könnte.
„Zweitens: Ich bin durchaus in der Lage, mich zur Wehr zu setzen – nicht nur mit den Fäusten.“
„Bist du bewaffnet?“, fragte Thorsten entgeistert.
„Meistens. Und legal, falls du dich das fragen solltest.“
Warum wunderte ihn das? Der Mann war Privatermittler! Da war es doch nicht ungewöhnlich, wenn er im Besitz einer Waffe war – oder doch?
„Jetzt sag nicht, du hast sie dabei …“
„Nein. Sollte ich? Du erscheinst mir nicht gefährlich.“ Enrique grinste ihn an und fischte anschließend den Teebeutel aus der Tasse.
Thorsten tat es ihm nach und griff den Zuckerspender, den Enrique im gleichen Augenblick haben wollte. Ihre Hände berührten sich und ein angenehmes Kribbeln breitete sich in Thorsten aus. Er hielt inne – diese Reaktion verblüffte ihn. Es war ja nicht das erste Mal, dass ihre Hände miteinander in Kontakt kamen. Enrique zog sich nicht zurück, im Gegenteil. Er schob seine Hand weiter, bis sie Thorstens bedeckte. Der sah zögerlich auf, blickte in diese dunklen Augen, die ihn mehr und mehr in ihren Bann zogen. Ob er es nun wollte, oder nicht.
Gespannte Stille herrschte zwischen ihnen. Nur das Ticken der Wanduhr und ihr Atmen war zu hören. Ein imaginäres Bild von Martin schob sich in den Vordergrund, beendete die Starre und zerstörte das unsichtbare knisternde Band, welches sie beide verbunden hatte – Thorsten
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