Blut im Schnee
um in die Stadt aufzubrechen, mied er absichtlich die Jacke, die Enrique getragen hatte. Thorsten glaubte, wenn er dem Geruch fernblieb, könnte er auch die Gefühle für Enrique auf Abstand halten, die sich langsam in ihm breitmachten. Er schlüpfte schnell in seinen Parka, band sich den Schal um und prüfte, ob er alles eingesteckt hatte, was er brauchte. Im Auto begannen die Nachrichten, als er auf die Kaiserthermen zufuhr und rechts abbog. Es gab keine neue Stellungnahme der Polizei, was die Mordserie betraf. Er hoffte, dass Enrique in dem Fall weiterkam. Für Thorsten hatte das alles keinen Sinn, denn er sah keinen Zusammenhang zwischen den getöteten Männern. Was ihn jedoch nicht davon abhielt, das Puzzle lösen zu wollen. Auch wenn er dazu selbst nicht in der Lage war, wollte er doch wissen, was hinter all dem steckte. Nicht nur für Martin, auch für die anderen Männer, die es in seinen Augen wahllos getroffen hatte.
Selbst wenn er inzwischen wusste, was für ein Doppelleben Martin geführt hatte, ließen sich Trauer und Wut nicht vertreiben. Trauer um den Mann, den er liebte, noch immer. Wut auf den Täter, der ihm diesen genommen hatte. Zwar konnte er nicht leugnen, dass sich neue Gefühle in ihm breitmachten, die nicht Martin galten, sondern Enrique, aber er verglich beide Arten nicht miteinander. Mit Martin verband ihn eine tiefe Liebe, die blieb, auch wenn das Vertrauen zerstört war. Bei Enrique war es anders, das sah er jetzt, als ob die Sonne, die durch die Wolkendecke lugte, ihm einen klaren Kopf bescherte. Es existierte eine Anziehung, ein Prickeln und die Neugier, auf neues, unentdecktes Terrain vorzustoßen. Mit Liebe hatte das nichts zu tun. Thorsten glaubte, dass Martin es ebenfalls so gesehen und sich deshalb die Freiheit herausgenommen hatte, mit anderen Männern zu schlafen. Nicht die feine Art, und obwohl es schmerzte, konnte Thorsten ihn irgendwie verstehen.
Er parkte im Porta Nigra Parkhaus und lief das kurze Stück zum Bestattungsinstitut. Im gleichen Moment, als er die Tür aufdrückte, klingelte sein Handy. Die Nummer ähnelte der von Gruber, weshalb Thorsten davon ausging, dass es jemand aus dem Kommissariat sein musste. Er nahm den Anruf an und entschuldigte sich mit einer Handbewegung bei dem Mann, der freundlich auf ihn zukam.
Die Beamtin am Telefon erklärte Thorsten sachlich, aber höflich, dass Martins Leichnam nun zur Bestattung freigegeben war. Sobald die Formalitäten erledigt seien, könnten die Papiere abgeholt werden. Somit stünde es ihm frei, die Beerdigung in Auftrag zu geben. Thorsten dankte ihr für die Auskunft und beendete das Gespräch.
Wenn das nicht ein Zufall ist!, schoss es ihm in den Sinn.
***
Zimmermann wurde von den beiden Beamten flankiert, die ihn abgeholt hatten. Joachim sah ihnen entgegen, als sie den Gang entlang kamen. Die Mimik des Verdächtigen war teilnahmslos und wirkte wie erstarrt. Joachim konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, was in dem Mann vorging. Er sah aus, wie eine Statue. Joachim hielt die Tür zum Vernehmungszimmer auf und ließ den Kollegen samt Zimmermann den Vortritt. Kaum saß dieser auf dem Stuhl, konfrontierte Joachim ihn mit den Ergebnissen der Ermittlungen.
„Sie hatten Kontakt zu einem gewissen Stefan Jäckels – warum?“
„Wer soll das sein?“, konterte Zimmermann unbeeindruckt.
„Tun Sie nicht so, als wüssten Sie das nicht. Sie haben mehrfach mit dem Mann telefoniert und ich will wissen, warum!“
„Habe ich das?“, Zimmermann zog die Brauen zusammen, als überlege er. „Da werde ich wohl einen Grund gehabt haben.“
„Der wäre?“
Zimmermann lehnte sich zurück und rieb sich über die Stirn – als ob das seine Gedanken beflügeln könnte …
***
Während Joachim Gruber den Verdächtigen verhörte, waren Jean und seine Freunde auf einen Kaffee verabredet. Einmal im Monat traf sich die Truppe, die sich schon seit der Schulzeit kannte und das Ritual nach dem Abitur beibehalten hatte. Einen Nachmittag verbrachten die Schulfreunde gemeinsam und tauschten Neuigkeiten aus. Als sich Jean frühzeitig aus dem Café verabschiedete, weil er im ‚Porta Rosa‘ noch Vorbereitungen für den Abend treffen wollte, hielt ihn niemand auf. Im Gegenteil, seine Freunde unterstützten ihn bei der Aufklärungsarbeit, die er für die Jugendlichen leistete und nahmen es ihm nicht krumm, wenn er einmal zu wenig Zeit für sie hatte.
An diesem kalten Winternachmittag beeilte sich Jean, da er auf dem
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