Blut muss fließen
schon zehn Jahre alt waren. Kurioserweise musste ich mir manchmal anhören, dass drei oder vier Monate alte Aufnahmen von mir nicht mehr aktuell genug seien. Aber das galt eben nicht für Szenematerial, das dank Zitatrecht lizenzgebührenfrei gesendet werden kann. Und wenn einer Fernsehredaktion zehn Jahre alte Nazi-Videos als Genrematerial ausreichen, dann ist eine Recherche wie die meine wirtschaftlich zum Scheitern verurteilt, bevor sie begonnen hat.
Dass sie trotzdem begonnen hat, ist dem Interesse eines Magazins zu verdanken, das auf dem Privatsender RTL läuft: Spiegel TV.
Ich hatte am 15. September 2003 alle Fernsehpolitmagazine in Deutschland kontaktiert, die mir bekannt waren – verbunden mit dem Angebot, bei Neonazi-Konzerten mit versteckter Kamera zu drehen. Am 6. September 2003 war in Nürnberg der Kameradschaftsführer Martin Wiese festgenommen worden, die Polizei ermittelte wegen eines geplanten Sprengstoffanschlags auf die Grundsteinlegung des neuen Jüdischen Kulturzentrums am Münchner Sankt-Jakobs-Platz (Wiese kam schließlich für mehrere Jahre ins Gefängnis). Neonazis waren also gerade ein Topthema, als ich einen Fernsehbericht über den »Boom der Neonazi-Musikszene« vorgeschlagen habe.
Sämtliche Redaktionen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens haben entweder gar nicht erst geantwortet oder abgesagt: »Das angebotene Thema ist für uns zur Zeit nicht weiter interessant, zumal kürzlich eines der anderen fünf ARD-Magazine einen Bericht darüber gebracht hat.« Ein Bericht mit aktuellem Videomaterial von konspirativen Neonazi-Konzerten kann das nicht gewesen sein – denn solches gab es vor meiner Videorecherche nicht. Ein anderes ARD-Magazin teilte mir mit: »Wir erhalten von unseren Zuschauern täglich sehr viele Themenvorschläge. […] Wir bitten Sie um Verständnis, dass wir das von Ihnen vorgeschlagene Thema leider nicht | 190 | realisieren können.« Ein Formschreiben an Zuschauer auf einen Themenvorschlag, den ich zusammen mit meinen Arbeitsnachweisen aus überregionalen Printmedien eingeschickt hatte. Unterzeichnet von einer Chefin vom Dienst.
Spiegel TV und Stern TV hatten als einzige Interesse. Stern TV absagen zu müssen, fiel mir schwer. Schließlich hatte ich in den Vorjahren, im Printbereich, bei deutlich weniger renommierten Redaktionen vergeblich meine Recherchen angeboten. Aber Spiegel TV hatte sich zuerst gemeldet, und deshalb lief der erste Beitrag dort. Auch in der Gesamtbilanz, im Rückblick auf meine fast neun Recherchejahre mit versteckter Kamera, ist festzustellen: Spiegel TV hat mit Abstand am meisten Videomaterial von mir gesendet und damit diese Undercover-Arbeit unterstützt wie keine zweite Redaktion.
Was die Ablehnungsgründe »zu wenig Sendezeit« und »zu wenig Geld« betrifft, so lauten die entscheidenden Fragen: Welcher Anteil der Rundfunkgebühren – jährlich mehr als sieben Milliarden Euro – fließt in den Sport und in Infotainmentangebote wie Talkshows? Und welcher Anteil fließt in die investigative Recherche? Wenn zunehmend Rechnungsprüfer und Co. statt Redakteure über die Effizienz von Recherchen urteilen und Recherchen einfach eingespart werden, dann entsteht eine Kettenreaktion: Wo weniger Geld in Recherchen fließt, wird weniger recherchiert. Wo weniger recherchiert wird, werden weniger Missstände aufgedeckt. Wo weniger Missstände aufgedeckt werden, bleiben mehr Missstände bestehen. Und das schadet nicht nur freien Rechercheuren, sondern der ganzen Gesellschaft – der Demokratie. Investigative Recherche und eine Budgetierung unter Effizienzkriterien wie der Einschaltquote schließen sich per se aus. Der Aufwand einer Recherche hängt vom Thema ab, und der Wert eines aufgedeckten Missstandes lässt sich nicht monetär bewerten.
Apropos Einschaltquote: Ich habe diesbezüglich mehrfach positive Rückmeldungen aus den Redaktionen erhalten, wenn Beiträge mit meinem Videomaterial gesendet worden waren. Die Quote ging teilweise sogar innerhalb der Sendung hoch, wenn die Zuschauer aufgrund meiner verdeckten Drehs hinter die Kulissen der Neonazis schauen konnten. Bei Stern TV waren es bei einem Beitrag im | 191 | Februar 2012 rund 3,5 Millionen Fernsehzuschauer. Eine gegenteilige, also negative Quotenrückmeldung habe ich nie bekommen. Die Einzigen, die von diesen Einblicken in die konspirativ organisierte Neonazi-Szene gelangweilt zu sein schienen, waren vielfach die entscheidenden Redakteure. Eine mögliche Erklärung: Meine
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