Blut muss fließen
körnig aufgelösten und wackeligen, da mit einer Knopflochkamera gedrehten Bilder waren eine Besonderheit. Deshalb sind sie Leuten in der Branche besonders gut in Erinnerung geblieben. Und weil Redakteure diese Beiträge gut in Erinnerung behalten haben, meinten sie, es werde laufend entsprechendes Material gesendet – was faktisch nicht stimmte.
Mit einer falschen Erinnerung hat auch das folgende Beispiel zu tun. Ich habe 2006 mehreren Politmagazinen vorgeschlagen, über die Geschäftsstrukturen der Neonazis zu berichten, weil ein Teil ihrer Millionenumsätze in die politische Arbeit fließt. Angeboten habe ich Videomaterial aus Nazi-Läden und aus einschlägigen Versandunternehmen sowie ein Interview mit Computerhackern, die Internetpräsenzen von Nazi-Versänden geknackt und dort Kundendateien und Umsatzzahlen erbeutet hatten. Einen solchen Hack realisierten sie vor meiner Kamera – Szenen, die nie im Fernsehen gezeigt wurden. Eine ARD-Redaktion begründete ihre Absage damit, dass sie ein ähnliches Thema schon im Vorjahr behandelt habe. Diesen Beitrag wollte ich sehen, weshalb ich nachfragte, wie ich ihn bekommen könne. Mir wurde gesagt, ich fände ihn im Online-Archiv. Dort gab es aber keinen solchen Beitrag. Also meldete ich mich erneut bei der Redakteurin. Ihre Antwort: Sie kenne den Beitrag ebenfalls nicht und könne ihn auch nicht finden. In der Redaktionskonferenz habe aber jemand gesagt, es gebe einen solchen, und deshalb sei der Themenvorschlag abgelehnt worden. Dabei blieb es.
Abgesehen von der Senderpolitik, die zu einer Kürzung der ARD-Politmagazine von 45 auf 30 Minuten geführt hat, steht mancher Redaktion die eigene Führung im Weg. Wer meint, vier bis fünf politische TV-Beiträge in eine halbe Stunde zwängen zu müssen, der kann nur noch schwarz-weiß malen und das nur zu einem relativ hohen Preis. Wer seinen Sendungsetat auf drei Achtminüter statt auf vier Sechsminüter verteilt, kann hingegen tiefergehend berichten | 192 | und obendrein die Rechercheure fairer bezahlen, weil sich das Budget nur durch drei teilt – was wenigstens ein bisschen dazu beitragen würde, dass auch künftig Grundlagenrecherchen gemacht werden, deren Ergebnisse bei Bedarf abrufbar sind. Ein Beispiel: Die CD mit dem Song Döner-Killer von »Gigi und den Braunen Stadtmusikanten« stand in keiner ARD- oder ZDF-Redaktion, sie stand in einem privat finanzierten Archiv mit mehreren tausend Tonträgern, dessen Aufbau die Kollegen mehrere zehntausend Euro gekostet hat. Von dort bezogen Magazine das Lied, nachdem der Nationalsozialistische Untergrund aufgeflogen war.
Nicht nur Verfassungsschützer und Polizisten hätten früher auf die Spur der Rechtsterroristen kommen können oder müssen, sondern auch die Medien. Doch die Recherche bleibt im täglichen Nachrichtengeschäft immer häufiger auf der Strecke. Viele Journalisten berichten über Pressekonferenzen, ohne dortige Verlautbarungen in Frage zu stellen. Nach den Morden wurden einfach die polizeilichen Hypothesen wiedergegeben. So gerieten einige der Opfer in Verdacht, selber in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen zu sein. Statt diese Annahme beispielsweise in Gesprächen mit den Angehörigen zu überprüfen, recherchierten einige Redaktionen genau in die falsche Richtung, welche die Ermittler vorgegeben hatten. Der haltlose Verdacht schien sich sogar im Namen mancher Sonderkommissionen widerzuspiegeln: »Bosporus« und »Halbmond«.
Im Unterschied zu den Medien kann die Polizei für sich in Anspruch nehmen, die Neonazi-Mörder wenigstens am 4. November 2011 entdeckt zu haben. Seither prangern die Medien das Versagen von Polizei und Verfassungsschutz an. Aber wer recherchiert und berichtet über das Versagen der Medien? Drei Verfassungsschutzpräsidenten mussten nach den Ermittlungspannen bezüglich des NSU bislang ihre Ämter räumen – aber keiner von den Intendanten und Verlagsleitern, die zunehmende Recherchedefizite zu verantworten haben und damit auch die unzureichende Recherche im Neonazi-Bereich.
Während die Hinweise von mir und von anderen freien Rechercheuren auf die wachsende Neonazi-Bewegung (in Form von Themenvorschlägen) meist ignoriert oder als unwichtig abgetan | 193 | wurden, liefen ganz andere Fernsehbeiträge über demnach zentrale Problemlagen der Gegenwart. Ein Beispiel: »Hautkrebs trotz Sonnencreme«. Das kam wohlgemerkt nicht in einem Verbraucherratgeber, sondern in einem Politmagazin der ARD. Ein ähnliches
Weitere Kostenlose Bücher