Blut - Skeleton Crew
Tasten. Er betrachtete den Bildschirm und sah diese Buchstaben grün auf der Oberfläche des Bildschirms schweben:
MEIN BRUDER WAR EIN WERTLOSER TRUNKENBOLD.
Sie schwebten da, und plötzlich fiel Richard ein Spielzeug ein, das er als Kind gehabt hatte. Es hieß Magischer Ball. Man stellte ihm eine Frage, die mit ja oder nein beantwortet werden konnte, dann drehte man den Magischen Ball um und sah, was er zum Thema zu sagen hatte – zu seinen albernen aber hinreißend mysteriösen Antworten gehörten Sätze wie ES IST FAST SICHER, DAMIT WÜRDE ICH NICHT RECHNEN und FRAG SPÄTER NOCH EINMAL.
Roger hatte ihn um dieses Spielzeug beneidet, und als er Richard eines Tages so lange eingeschüchtert hatte, bis dieser es ihm gegeben hatte, hatte Roger es so fest er konnte auf den Gehweg geschmettert und zerbrochen. Dann hatte er gelacht. Und während Richard jetzt dasaß und dem seltsam abgehackten Dröhnen der CPU lauschte, die Jon gebastelt hatte, dachte er daran, wie er weinend auf den Gehweg gesunken war und nicht begreifen konnte, wie sein Bruder so etwas hatte tun können.
»Heulsuse, Heulsuse, seht euch die Heulsuse an«, hatte Roger ihn verspottet. »Es war doch sowieso nur ein billiges Scheißspielzeug, Richie. Sieh her, nichts drin als ein Haufen kleiner Schilder und eine Menge Wasser.«
»ICH PETZE!«, hatte Richie aus voller Lunge gebrüllt. Sein Kopf war heiß. Tränen der Wut verstopften seine Stirnhöhlen. »DAS SAG ICH, ROGER! ICH VERPETZ DICH BEI Mama!«
»Wenn du mich verpetzt, brech ich dir den Arm«, hatte Roger gesagt, und an seinem kalten Grinsen hatte Richard gesehen, dass es ihm ernst war. Er hatte nicht gepetzt.
MEIN BRUDER WAR EIN WERTLOSER TRUNKENBOLD.
Nun, komisch zusammengebaut oder nicht, er zeigte auf dem Bildschirm an. Ob er Informationen in der CPU speichern würde, blieb abzuwarten, aber Jons Kombination einer Wang-Tastatur mit einem IBM-Bildschirm funktionierte tatsächlich. Zufällig rief das Ding auch einige beschissene Erinnerungen wach, aber er nahm nicht an, dass das Jons Schuld war.
Er sah sich in seinem Arbeitszimmer um, und zufällig fiel sein Blick auf das einzige Bild, das er nicht selbst ausgesucht hatte und das ihm nicht gefiel. Es war ein Studioporträt von Lina, ihr Weihnachtsgeschenk vor zwei Jahren. Ich möchte, dass du es in deinem Arbeitszimmer aufhängst, hatte sie gesagt, und natürlich hatte er genau das getan. Er vermutete, dass das ihre Art war, ihn im Auge zu behalten, auch wenn sie nicht da war. Vergiss mich nicht, Richard. Ich bin da. Vielleicht habe ich aufs falsche Pferd gesetzt, aber ich bin noch da. Und das solltest du lieber nicht vergessen.
Das Studioporträt mit seinen unnatürlichen Farben passte nicht zu den anmutigen Stichen von Whistler, Homer und N.C. Wyeth. Linas Augen waren halb geschlossen, der breite Amorbogen des Mundes zu etwas gekrümmt, das nicht ganz ein Lächeln war. Ich bin noch da, Richard, sagte ihr Mund zu ihm. Vergiss das ja nicht.
Er tippte: DAS FOTO MEINER FRAU HÄNGT AN DER WESTWAND MEINES ARBEITSZIMMERS.
Er betrachtete die Worte, und sie gefielen ihm ebenso wenig wie das Foto selbst. Er drückte die Delete-Taste. Die Worte verschwanden. Jetzt war nichts mehr auf dem Bildschirm außer dem konstant pulsierenden Cursor.
Er sah zur Wand und stellte fest, dass das Foto seiner Frau auch verschwunden war.
Er saß sehr lange Zeit da – zumindest kam es ihm so vor – und betrachtete die Wand, wo das Bild gehangen hatte. Was ihn schließlich aus der Benommenheit völligen, fassungslosen Schocks riss, war der Geruch aus der CPU – ein Geruch, an den er sich aus seiner Kindheit ebenso deutlich erinnerte wie an den Magischen Ball, den Roger zerbrochen hatte, weil es nicht seiner war. Der Geruch war die Essenz eines Eisenbahntrafos. Wenn man diesen Geruch wahrnahm, musste man das Ding abschalten, damit es abkühlen konnte.
Und das würde er.
In einer Minute.
Er stand auf und ging mit weichen Knien zur Wand. Er strich mit den Fingern über die Armstrong-Täfelung. Hier hatte das Bild gehangen, ja, genau hier. Aber jetzt war es verschwunden, und der Haken, an dem es gehangen hatte, war verschwunden, und es war kein Loch wo er den Haken eingeschraubt hatte.
Verschwunden.
Die Welt wurde plötzlich grau, und er taumelte rückwärts und dachte verschwommen, dass er in Ohnmacht fallen würde. Er hielt sich grimmig fest, bis die Welt wieder deutlich wurde.
Er sah von der leeren Stelle an der Wand, wo noch vor kurzem Linas Foto
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