Blut - Skeleton Crew
einer schwabbeligen Hand. Dieser drehte sich in der Zellophantüte wie der Leichnam eines bizarren Selbstmörders.
»Was glotzt du so an, Richard?«, fragte sie.
Dich, Lina. Dich glotze ich so an. Weil du so in einer Welt geworden bist, in der wir keine Kinder hatten. So bist du in einer Welt geworden, in der du kein Objekt für deine Liebe hattest – so vergiftet deine Liebe auch sein mag. So also sieht Lina in einer Welt aus, in der sie alles nimmt und nichts gibt. Dich, Lina. Dich glotze ich an. Dich.
»Den Vogel, Lina«, brachte er schließlich hervor. »Das ist einer der größten Truthähne, die ich je gesehen habe.«
»Steh nicht nur da und glotz ihn an, Idiot. Hilf mir lieber!«
Er nahm den Truthahn, legte ihn auf die Arbeitsplatte und spürte eine freudlose Kälte. Es hörte sich wie ein Stück Holz an.
»Nicht dahin! «, rief sie ungeduldig und deutete auf die Speisekammer. »Da passt er nicht rein. Leg ihn in die Tiefkühltruhe!«
»Entschuldige«, murmelte er. Sie hatten nie eine Tiefkühltruhe gehabt. Nicht in der Welt, in der es einen Seth gegeben hatte.
Er brachte den Truthahn in die Speisekammer, wo eine lange Amana-Tiefkühltruhe unter kalten weißen Neonröhren stand wie ein kalter weißer Sarg. Er legte ihn zu den anderen kryonisch erhaltenen Leichen von Vögeln und Tieren und kehrte in die Küche zurück. Lina hatte das Glas Erdnussbutterkekse Marke Reese aus dem Schrank geholt und aß sie methodisch einen nach dem anderen.
»Es war das Erntedank-Bingo«, sagte sie. »Wir haben es schon diese Woche veranstaltet, und nicht nächste, weil Vater Phillips nächste Woche ins Krankenhaus und sich die Gallenblase rausnehmen lassen muss. Ich habe gewonnen.« Sie lächelte. Eine braune Mischung aus Schokolade und Erdnussbutter tröpfelte und rann von ihren Zähnen.
»Lina«, sagte er. »Tut es dir manchmal leid, dass wir nie Kinder hatten?«
Sie sah ihn an, als hätte er völlig den Verstand verloren. »Was, in Gottes Namen, sollte ich mit so einem Quälgeist?«, fragte sie. Sie stellte das um die Hälfte geschrumpfte Glas Kekse wieder in den Schrank. »Ich geh ins Bett. Kommst du auch, oder gehst du noch rüber und sitzt eine Weile über deiner Schreibmaschine?«
»Ich glaube, ich gehe noch ein bisschen rüber«, sagte er. Seine Stimme klang erstaunlich ruhig. »Es wird nicht lange dauern.«
»Funktioniert das Ding?«
»Was …« Dann begriff er und bekam wieder Schuldgefühle. Sie wusste von dem Textcomputer, natürlich wusste sie davon. Seths LÖSCHUNG hatte nichts mit Roger und dem Leben von Rogers Familie zu tun. »Oh. O nein. Es funktioniert nicht.«
Sie nickte befriedigt. »Dieser Neffe von dir stand nie mit beiden Beinen fest auf der Erde. Genau wie du, Richard. Wenn du nicht so ein Schlappschwanz wärst, würde ich mich fragen, ob du ihn vor fünfzehn Jahren nicht einmal wo reingesteckt hast, wo er nichts zu suchen hatte.« Sie lachte ein heiseres und erstaunlich kräftiges Lachen – das Lachen einer alternden zynischen Kupplerin –, und im ersten Moment wäre er fast auf sie losgegangen. Aber dann spürte er ein Lächeln auf den eigenen Lippen – ein Lächeln, das so dünn und weiß und kalt war wie die Amana-Tiefkühltruhe, die Seth in dieser neuen Wirklichkeit ersetzt hatte.
»Es wird nicht lange dauern«, sagte er. »Ich möchte mir nur ein paar Notizen machen.«
»Warum schreibst du keine Kurzgeschichte, die den Nobelpreis gewinnt, oder so was?«, fragte sie gleichgültig. Die Dielenbretter knarrten und ächzten, als sie ihr Gewicht zur Treppe schleppte. »Wir schulden dem Optiker noch Geld für meine Lesebrille, und sind eine Rate für den Betamax im Rückstand. Warum verdienst du nicht endlich etwas Geld?«
»Nun, ich weiß es nicht, Lina«, sagte Richard. »Aber heute Abend habe ich ein paar tolle Ideen. Wirklich.«
Sie drehte sich um, sah ihn an, schien wieder eine sarkastische Bemerkung auf der Zunge zu haben – etwa, dass keine seiner tollen Ideen ihnen viel eingebracht hatte, sie aber trotzdem bei ihm geblieben war –, verkniff sie sich aber. Vielleicht wurde sie von seinem Lächeln verunsichert. Sie ging nach oben. Richard stand unten und lauschte ihren donnernden Schritten. Er spürte Schweiß auf der Stirn. Er fühlte sich elend und aufgekratzt zugleich.
Er drehte sich um und ging in sein Arbeitszimmer zurück.
Als er das Gerät diesmal einschaltete, gab die CPU kein Summen oder Dröhnen von sich; sie stieß ein ungleichmäßiges Heulen aus.
Weitere Kostenlose Bücher