Blut - Skeleton Crew
eine Thrombose der Herzkranzgefäße festgestellt. Sechzehn Tage später wäre er dreiundzwanzig geworden.
In den folgenden Tagen versuchte ich mir einzureden, dass alles ein böser Zufall gewesen war, den man am besten vergaß. Ich schlief nicht gut, nicht einmal mithilfe meines guten Freundes Mr. Cutty Sark. Ich sagte mir, dass es am besten wäre, den Pott des letzten Spiels unter uns aufzuteilen und zu vergessen, dass Henry Brower jemals in unser Leben getreten war. Aber ich konnte nicht. Stattdessen schrieb ich einen Barscheck über die Summe aus und ging zu der Adresse, die Greer mir gegeben hatte, die in Harlem lag.
Er war nicht dort. Seine Nachsendeadresse war an der East Side, in einer nicht ganz so vornehmen Umgebung, mit dennoch ganz annehmbaren Ziegelhäusern. Diese Wohnung hatte er einen ganzen Monat vor dem Pokerspiel verlassen, die neue Adresse lag im East Village, einer Gegend mit heruntergekommenen Mietskasernen.
Der Hausmeister, ein Mann mit einer riesigen schwarzen Dogge, die knurrend neben ihm stand, erklärte mir, dass Brower am dritten April ausgezogen war – dem Tag nach unserem Spiel. Ich fragte ihn nach einer Nachsendeadresse, und er warf den Kopf zurück und stieß ein verschleimtes Kollern aus, das bei ihm scheinbar Ersatz für Gelächter war.
›Die einzige Nachsendeadresse, die sie hinterlassen, wenn sie von hier weggehen, ist die Hölle, Boss. Aber auf dem Weg dorthin machen sie manchmal Rast in der Bowery.‹
Damals war die Bowery tatsächlich das, wofür sie heute nur noch von Ortsfremden gehalten wird: die Heimat der Heimatlosen, der letzte Haltepunkt für die anonymen Männer, die nur noch eine Flasche billigen Wein oder einen Schuss von dem weißen Pulver wollen, das lange Träume bringt. Ich ging dorthin. Damals gab es dort Dutzende Absteigen, einige wohltätige Missionshäuser, wo Betrunkene eine Nacht bleiben konnten, und Hunderte Gassen, wo ein Mann eine alte verlauste Matratze verstecken konnte. Ich sah Dutzende Männer, die nur noch Schatten ihrer selbst waren, von Alkohol oder Drogen verwüstet. Dort wurden keine Namen benutzt. Wenn ein Mann erst einmal auf die tiefste Stufe gesunken ist, wenn seine Leber vom Spiritus zerstört, seine Nase eine offene eiternde Wunde vom ständigen Kokain- oder Pottascheschnupfen ist, wenn seine Finger von Frostbeulen verunstaltet und seine Zähne zu schwarzen Stummeln verfault sind – dann braucht er keinen Namen mehr. Aber ich beschrieb Henry Brower jedem, dem ich begegnete – ohne Erfolg. Barkeeper schüttelten den Kopf und zuckten die Achseln. Die anderen sahen einfach zu Boden und gingen weiter.
Ich fand ihn weder an diesem Tag, noch am nächsten, noch am übernächsten. Zwei Wochen vergingen, dann traf ich einen Mann, der mir sagte, dass so jemand drei Nächte zuvor in Devarney’s Rooms gewesen sei.
Ich ging dorthin; es war nur zwei Häuserblocks von der Gegend entfernt, die ich abgesucht hatte. Der Mann am Empfang war ein schorfiger Alter mit kahlem, grindigem Schädel und nässenden Triefaugen. Im vor Fliegendreck strotzenden Fenster zur Straße hing ein Schild, dass ein Zimmer nur zehn Cent pro Nacht kostete. Ich beschrieb Brower, und der Alte nickte die ganze Zeit. Als ich fertig war, sagte er:
›Ich kenne ihn, junger Härr. Kenne ihn gut. Aber ich kann mich nicht so recht erinnern … Ich glaube, mit ’nem Dollar vor mir würd’s besser gehen.‹
Ich gab ihm einen Dollar, und er ließ ihn trotz Arthritis im Handumdrehen verschwinden.
›Er war hier, junger Härr, aber er ist fort.‹
›Wissen Sie wohin?‹
›Ich kann mich nicht so recht erinnern‹, sagte der Portier. ›Vielleicht mit einem Dollar vor mir.‹
Ich gab ihm einen zweiten Schein, den er ebenso rasch verschwinden ließ wie den ersten. Etwas kam ihm anscheinend urkomisch vor, denn ein keuchendes, tuberkulöses Lachen stieg aus seiner Brust auf.
›Sie haben Ihren Spaß gehabt und sind auch noch gut dafür bezahlt worden‹, sagte ich. ›Wissen Sie jetzt, wo der Mann ist?‹
Der Alte lachte wieder fröhlich. ›Ja – sein neuer Wohnort ist der Töpferacker; seine Mietzeit ist die Ewigkeit, und sein Zimmergenosse ist der Teufel. Wie gefällt Ihnen diese Nachricht, junger Härr? Er muss irgendwann gestern früh gestorben sein, denn als ich ihn mittags fand, war er noch warm und knusprig. Saß aufrecht am Fenster, der Kerl. Ich war raufgegangen, um entweder zehn Cent für die Nacht zu kassieren oder ihn vor die Tür zu setzen. Und nun hat die
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