Blut und Harz
selben Augenblick erschütterte ein heftiger Schlag den Ozeangrund, wo er die Kräfte fokussiert hatte.
Reimund spürte nur ein leichtes Zittern in seiner Magengegend, doch er wusste, welche urweltlichen Kräfte er gerade entfesselt hatte. Das Beben, das in wenigen Minuten - durch den Schlag ausgelöst - immer heftiger anschwellen würde, würde mit einer Stärke von über 9,3 in die Geschichte eingehen und sich an die Spitze der stärksten Beben seit Beginn der seismischen Messungen setzen. Reimund wusste es einfach. Und er war plötzlich unfassbar müde.
Mit einem erschöpften Keuchen stemmte er sich hoch. Einen Augenblick lang taumelte er, noch benommen von seiner Schöpfung. Einige wenige Urlauber, die am Wasser spazieren gingen, beobachteten ihn mit einer Spur von Belustigung. Wahrscheinlich hielten sie ihn für einen verwirrten Nerd oder einen Verrückten.
Reimund interessierte es nicht.
Er schnappte sich wankend seine Schuhe, in die er seine Socken hineingesteckt hatte, und eilte erst unsicher, dann wieder festeren Schrittes über den Strand zurück zur Promenade. Er blickte nicht mehr zurück.
Er wusste was geschehen würde: Zuerst würde der Ozeangrund absacken und abrutschen. Unendliche Tonnen aus Stein einfach verschwinden. Dann konnte ein geübtes Auge ein mehrmaliges schnelles Ansteigen und Fallen des Meeresspiegels beobachten. Daraufhin würde das Meer weit zurückweichen um das plötzlich entstandene Loch mit Wasser zu füllen. Ein tiefes Wellental würde deshalb die Sonnenküste Spaniens und die Küsten Marokkos und Algeriens erreichen und schwarze Seeböden, Riffe und Felsen enthüllen, die seit Jahrtausenden vom Wasser bedeckt waren. Danach würde die erste der Wellen heranbranden. Gewaltig, riesig, tosend und todbringend.
Japanische Fischer hatten dieser Katastrophe einen Namen gegeben, die wörtlich übersetzt „Welle im Hafen“ bedeutete. Tsu für Hafen, Nami für Welle.
Es würde das Sumatra-Andamanen-Beben aus dem Dezember 2004, wo etwa 230.000 Menschen an asiatischen und afrikanischen Küsten durch einen Tsunami starben weit in den Schatten stellen. Die Fernsehbilder von damals flackerten noch vor seinem inneren Auge.
Und er hatte Schätzing mit seinem Schwarm gelesen. Er wusste um die unvorstellbaren Kräfte eines Seebebens und des darauf folgenden Tsunamis.
Er blickte auf seine Armbanduhr. Er lag perfekt im Zeitplan.
Gleichzeitig erreichte er den Gehsteig, der bald unter brodelnden Wassermassen und scharfkantigen Trümmern verborgen sein würde und winkte hastig einem heranbrausenden Taxi. Der rundum angekratzte und zerbeulte Wagen hielt an.
»Al aeropuerto de Malaga, por favor«, sagte Reimund als er ächzend einstieg.
Der dunkelhäutige Schwarzhaarige, Spanier durch und durch, nickte nur, fuhr gemütlich an.
»Rapido!« forderte Reimund streng, drückte dem Mann zwanzig Euro in die Hand. Blitzend weiße Zähne grinsten im Rückspiegel auf, als der Fahrer Bodenblech gab.
Immer noch erschöpft, aber nicht mehr benebelt, ließ sich Reimund in den Rücksitz sinken. So lange hatte er auf diese Schöpfung gefiebert und nun war sie schon vollbracht. Ab jetzt zählte jede Sekunde.
In wenigen Minuten würde das Wasser beginnen, zurückzuweichen. Da musste er schon am Flughafen sein und einchecken. Nach seiner Planung sollte die Maschine gerade Richtung Meer abheben, über die herantosende Katastrophe hinwegfliegen, er sicher an Bord um in die neblige Kälte Deutschlands zurückzukehren.
Reimund kontrollierte sein Handy. Seit seinem Abflug vor gut fünf Stunden hatte er nichts mehr vom Kloster gehört. Er war gespannt, ob sich der Rabe oder Bruder Johannes bereits gemeldet hatten.
Das Mobilboxlogo pulsierte rot. Reimund hörte neugierig die einzige Sprachnachricht ab.
»Rufen Sie mich zurück. Dringend!« Die Worte des Raben klangen seltsam, anders betont, als er ihn kennengelernt hatte. Etwas Undefinierbares schwang zwischen den Zeilen mit.
Seltsam.
Mit kritischer Miene drückte er auf »Rückruf«. Etwas gefiel ihm nicht, doch er konnte nicht bestimmt sagen, was es war. Nach zweimaligen Schellen wurde abgehoben.
»Ja?« sagte der Rabe.
»Haben Sie ihren Auftrag erfüllt oder gibt es Komplikationen?«
Die direkte Frage schien den Killer nicht zu überraschen. »Keine Komplikationen, sondern Hindernisse«, erwiderte er scharf.
»Dann schaffen Sie die Hürden aus der Welt!« Der Ton des Raben gefiel ihm ganz und gar nicht. Irgendetwas war vorgefallen.
»Unmöglich! Ich habe
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