Blut und Harz
Geruch von Urlaub in der Luft. Reimund konnte sich dieses Eindrucks nicht erwehren, die gesamte Kulisse war zu überwältigend: Die hell verputzten Häuser mit flatternden Badehandtüchern an den Balkonen in seinem Rücken, das rötliche, vom Sand staubige Pflaster unter seinen Füßen, der ausladende Strand mit seinen Liegen und Sonnenschirmen, die urige Sangriabar zu seiner Linken mit klirrenden Gläsern, dem Duft frisch geschnittener Früchte, die bereits leuchtenden Reklamen und das ewige Rauschen der heranrollenden Wellen.
Reimund spürte eine wehmütige Traurigkeit in sich aufsteigen; nur leicht, aber fühlbar. All das würde er in den nächsten Minuten auslöschen. Die Schöpfung würde verheerend sein. Er wusste es.
Etwas stolperte dumpf gegen sein Bein.
Ein kleiner Junge, vielleicht sechs Jahre alt, mit wirrem Blondschopf und schokoladenverschmierter Schnute, drückte Reimund sein tropfendes Softeis mit Schokoüberzug gegen die Hose. Vor lauter Eis hatte der Bub ihn wohl übersehen.
»Uh oh!« rief er überrascht. Sein Blick wanderte von Reimunds verschmiertem Hosenbein zu seinem Eisrest, wieder zurück und dann langsam zu Reimunds Gesicht.
Die großen Augen des Lausers waren so blau wie der noch helle Himmel und strahlten vor Kraft und Energie. Mütter würden vor Freude jauchzen.
Bevor Reimund im Angesicht dieser kindlichen Unschuld etwas sagen konnte, streckte der Stöpsel seine mit Softeis belegte Zunge heraus, grinste über beide Ohren und rannten johlend davon.
Reimund blickte ihm noch minutenlang hinterher, auch als der Bengel schon lange zwischen den Urlaubern und Einheimischen verschwunden war.
Auch dieses unschuldige Leben wird sterben, dachte er. Er seufzte tief. Er konnte den Lauf der Dinge nicht ändern. Unschuldige Opfer gab es immer. Man konnte nicht nur die Schuldigen treffen, nicht in diesem Fall. Fast alle hatten sich schuldig gemacht.
Abrupt wandte sich Reimund von den Menschen ab, richtete seinen Blick zum Horizont, wo der Ozean und der Himmel nur von einem dünnen, dunkleren Strich getrennt wurden. Von dort würde die Schöpfung kommen.
Reimund zog sich die Schuhe und Strümpfe aus. Mit entschiedenen Schritten betrat er den weichen Sandstrand. Die feinen Körner schmeichelten seine Haut, drückten sich durch die Zehen, wärmten seine Füße. Erst kurz vor der Grenze, wo die schäumenden Wellen den Sand glätteten und dunkel färbten, blieb Reimund stehen, den Fokus immer noch in die Ferne gerichtet. Es roch nach Algen, Fisch, Salz und Meer.
Die Welt um ihn herum verblasst, blendete aus. Für ihn gab es nur noch den Sand, die Gezeiten, Wasser und Stein, das Meer, Ebbe und Flut, den Himmel, die Verbindung zum Boden, zur Welt und die Natürlichkeit.
Als das prickelnde Gefühl der Schöpfung ihn überkam, sank er auf die Knie, den Oberkörper gen Süden gerichtet. Er beugte sein Haupt bis es den feuchten Sand berührte. Leise rezitierte er uralte Worte.
Von außen wirkte er in diesen Minuten vielleicht wie ein Moslem beim salāt, dem rituellen Gebet. Nur blickte er nicht Richtung Kaaba und der Gebetsteppich fehlte ebenfalls.
Bei jeder größeren Welle umspülte das Meerwasser seinen Kopf, benetzte seine Stirn und wirbelte zurück.
Reimund interessierte es nicht.
Er war ganz versunken in seinem Tun, sein Geist entfernte sich, tanzte durch die Luft, durchschlug spritzend die Wasseroberfläche des anthrazitsilbrigen Meeres, tauchte einem Delphin gleich durch die Wogen. Energie sammelte sich in ihm, kanalisierte sich zu einem stärker werdenden Strom, floss zielgenau in eine tiefe Spalte am Meeresgrund, etwa zweihundert Kilometer südlich vom Strand und seiner menschlichen Hülle entfernt. Dunkelheit der tiefen Wasserschichten umfing ihn, verbarg ihn, kühlte seinen erhitzten Geist.
Er tastete fast zärtlich in der Felsspalte umher, fühlte, spürte die Schwachstelle im Gestein.
Dann war es schon Zeit.
Reimund schlug die Augen auf. Sein Oberkörper war in diesem Moment kerzengerade erhoben. Er streckte die Arme in den Himmel, spreizte die Finger soweit es ging. Eine frische Brise strich ihm durch die mit Sand beklebten Hände, löste vereinzelte Körner.
Die Uhren standen für einen Moment still; nur er, das Meer, der Stein.
Mit einem Ruck ließ er sich nach vorne schnellen und wuchtete seine Handflächen mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, in den nassen Strand. Schäumendes Meerwasser, vermischt mit Sand und glatt geschliffenen Muschelschalen spritzte davon.
Im
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