Blut und Harz
brachte.
»Dort werden sie wahrscheinlich nicht mehr sein. Verdammt. Ich muss wissen, wo sie sind.«
Reimund setzte sich in Bewegung und eilte über den Schotter hinweg. Nach ein paar Schritten blieb er nochmals stehen und drehte sich zu seinem Ordensbruder um.
»Ich bin im Hain, wenn etwas sein sollte. Bevor ich aufbreche, gebe ich dir Bescheid.«
Bruder Johannes verzog sein hageres Gesicht zu einem kalten Grinsen. »Genieß die Ruhe im Hain, Raphael. Keiner weiß, wie lange sie noch herrscht.«
Reimund nickte, dann eilte er davon.
Mit zügigen Schritten überquerte er den Hof und das gewaltige Eichentor, passierte den von Kerzenschein erleuchteten Flur und trat hinaus in den Kreuzgang.
Der Hain wartete bereits auf ihn. Geheimnisvoll und schattenhaft.
Reimund genoss den Anblick noch einen langen Moment und sog das erdige, feuchte Aroma tief in seine Lungen. Wie immer erfüllte es ihn mit prickelndem Leben.
Dann tauchte er hinein zwischen die Äste und Blätter. Es war stockfinster, doch Reimund kannte den Weg auch blind. Trotz der knorrigen Wurzeln, über die jeder Eindringling tausendfach gestolpert wäre, trotz der kantigen Stämme, die einem die Haut von den Knochen schürfen konnten, fand er seinen Weg unbehelligt bis in den Mittelpunkt des Hains zur uralten Eiche. Der kleine Teich lag wie ein Fleck schwarzer Tinte zu ihren Wurzeln.
Er war alleine, stellte Reimund nüchtern fest. Der emeritierte Abt schlummerte mit Gewissheit zwischen seinen Bettlaken und träumte von nackten, blassen Schenkeln, dachte er mit einem Anflug eines Schmunzelns. Der Gedanke an etwas Schlaf ließ ihn gähnen. Erst jetzt merkte er, wie müde er doch eigentlich war. Aber für Träumereien blieb keine Zeit.
Er musste wissen, wo sich Erik und sein Begleiter befanden.
Am Rand des Wassers ließ sich Reimund auf die Knie sinken. Blätter raschelten unter seinem Gewicht.
Beide Hände tauchte er tief hinein in das eisige Nass, schöpfte sich das Wasser ins Gesicht. Die Kühle vertrieb sofort jegliche Müdigkeit.
Seufzend schöpfte Reimund eine weitere Handvoll aus dem Teich und trank. Der Geschmack war rein und süßlich, fast als hätte jemand Zucker eingestreut. Doch Reimund wusste, dass sich kein Zucker darin befand. Der Geschmack rührte alleinig von der puren Natürlichkeit des Wassers her.
Mit gestilltem Durst erhob er sich wieder und sank an den Stamm der alten Eiche. Er lehnte den Kopf gegen die eisenharte Borke und schloss die Augen. Seine Hände ruhten auf dem Holz.
Nach wenigen Sekunden spürte er die Andersartigkeit.
Etwas griff nach seinem Geist, versuchte sich wie dünne Wurzeln darin einzunisten. Reimund ließ es geschehen. Er entspannte sich, zwang seinen Atem zur Ruhe.
Dann war die Verbindung da, von einem Moment zum anderen. Wie immer erlebte es Reimund vollkommen unvorbereitet, doch man gewöhnte sich scheinbar nie daran.
Er wurde eins mit dem Baum.
Gleichzeitig verwandelte sich seine Wahrnehmung. Das Gefühl war für ihn so bizarr, so andersartig und nicht in Worte zu fassen. Es überstieg jegliche menschliche Vorstellungskraft, doch Reimund hatte gelernt, diese neuen Sinne zu nutzen, sie zu lenken und zu steuern.
Verstehen tat er sie aber nicht. Er konnte es auch gar nicht. Ein Hund begriff die komplexen Gedankengänge von Menschen auch nicht. Sein Gehirn war gar nicht dazu in der Lage. Trotzdem nutzte er Hundeklappen, führte blinde Herrchen durch die Stadt und ließ sich von Tierärzten behandeln.
Reimund sank langsam weiter hinab in die Welt der Wurzeln. Er hörte das Geflüster der Würmer, das Schaben der Asseln und das Pochen der Erde.
Dann war er endlich so weit: Er öffnete sein drittes Auge, das was verborgen war, und sah die Welt aus einer neuen, facettenreicheren Perspektive.
Ohne weiter Zeit zu verschenken, ließ er seinen Geist dahingleiten und machte sich auf die Suche nach Erik Ritter und Alexander Kowalski.
***
Ein heftiger Stoß in die Schulterblätter ließ Natalja in den lausig erleuchteten Raum taumeln. Mit einem Ausfallschritt konnte sie sich gerade noch vor einem Sturz bewahren, der mit ihren auf den Rücken gefesselten Händen ohne jeden Zweifel schmerzhaft ausgefallen wäre.
Als sie ihr Gleichgewicht wieder unter Kontrolle hatte, fuhr Natalja wütend zu ihrem Peiniger herum.
Bruder Johannes stand gelassen im Türrahmen und lehnte an dunklem Eichenholz. Die Tür war unterarmdick und massiv. Auch die schwarzen Eisenscharniere schienen für die Ewigkeit geschmiedet worden zu
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