Blut und Harz
verhängnisvollen Sommer jedes Lebenszeichen. Erik hatte damals nur herausgefunden, dass Reimund direkt in die USA ausgewandert war. Seine Spur verlief sich jedoch in New York am Flughafen. Das Ganze war nun über dreißig Jahre her.
Erik schüttelte entschieden den Kopf. Der Fahrer des Passats konnte nicht Reimund gewesen sein. Seine Gedanken spielten ihm einen Streich, gaukelten ihm Bilder vor, wollten ihn verwirren. Sicher, der Mann hatte auf den kurzen, flüchtigen Blick seinem alten Freund ähnlich gesehen, aber in drei Jahrzehnten veränderte sich jeder. Keine Ahnung, wie Reimund heute aussah. Keine Ahnung, ob er überhaupt noch lebte!
Sein Gehirn verarschte ihn einfach. Seit Natalja die schlafenden Erinnerungen geweckt hatte, sah er immer häufiger Gespenster. Erik ballte die zittrigen Finger zu Fäusten.
Nein, so kann es nicht weitergehen, ermahnte er sich selbst. Wie wäre Erik Ritter so weit gekommen, wenn er sich von uralten Geschichten so aus der Bahn werfen ließ. Wo waren seine Disziplin und sein Durchhaltevermögen geblieben?
Entschlossen packte Erik das Lenkrad und setzte den Blinker. Nochmals atmete er tief durch. Der Geruch nach verbranntem Metall hatte sich bereits wieder verflüchtigt.
Ein PKW fuhr an ihm vorbei. Der Fahrer schaute offenbar neugierig durch seine Seitenscheibe in Eriks Richtung, doch er sah nichts von dem Gesicht des Mannes außer ein blasses Oval und zwei dunkle Löcher, wo die Augen hätten sein sollen. Es war ein geisterhaftes Antlitz, als säße ein bösartiger Dämon hinter dem Steuer des Wagens.
Oder der Tod persönlich.
Als das Auto an ihm vorbei war, steuerte Erik seinen Mercedes mit einem mulmigen Gefühl zurück auf die Straße und folgte dem PKW Richtung Hawelkas Praxis.
***
Schwebender Nieselregen hing seit Minuten in der Luft. Allmählich verwandelte er sich in einen leichten, aber beständigen Regenschauer, der lotrecht vom Himmel fiel. Erik lenkte den Wagen auf den fast leeren, gepflasterten Parkplatz, neben das Auto seines Freundes, das im Halbdunkel neben hochgewachsenen Büschen stand. Ein Paar Energiesparlampen erhellte den überdachten Eingangsbereich der Praxis und ein bläulicher Halogenstrahler beleuchtete das rechteckige Praxisschild aus gebürstetem Aluminium. Es glänzte edel und vornehm. In schwarzen Lettern stand dort eingraviert:
Dr. med. R. Hawelka
Arzt für Allgemeine Medizin
Sprechzeiten Mo – Fr von 9.00 – 12.00 Uhr | 15.00 - 18.00 Uhr und nach Vereinbarung
Erik ließ den Motor verstummen. Die Wagentür fiel wenig später gedämpft ins Schloss und die Blinker zwitscherten einmal kurz auf, als er über die Funkfernbedienung absperrte.
Als er mit eiligen Schritten durch den Regen an die gläserne Eingangstüre herantrat, hinter der der Empfangsraum in warmes, gelbes Licht getaucht lag, überkam ihn das unheimliche Gefühl beobachtet zu werden. Die Erinnerung an den geisterhaften Fahrer poppte wieder auf.
Erik blickte sich um. Niemand war zu sehen, aber das wunderte ihn eigentlich nicht. Die Sprechstunde war seit über einer Stunde vorbei. Ruppert würde mit Sicherheit alleine in seinem Zimmer arbeiten. Erik schimpfte sich einen Idioten, dann griff er nach der Türe, doch sie war abgesperrt. Mit leichtem Druck rüttelte er daran, dann klopfte er mehrmals laut gegen die Scheibe. Nichts geschah.
Seine Besorgnis unter Beobachtung zu stehen wuchs noch weiter an, sodass Erik dem Drang nicht mehr widerstehen konnte, sich erneut umzuschauen. Die Büsche ragten einsam, in dunkle Schatten getaucht, in die Höhe, die wenigen Lichter des Eingangsbereichs spiegelten sich glitzernd in dem nassen Lack der beiden Fahrzeuge und in den unbeleuchteten Fenstern der angrenzenden Häuser war keine Menschenseele zu sehen. Vielleicht versteckte sich jemand hinter einem dicken Vorhang und starrte ihn an? Irgendein Perverser mit Fernglas. Überall konnte man sich hier verbergen. An Verstecken mangelte es sicher nicht.
Aber plötzlich fühlte Erik sich närrisch. Er ließ sich wie ein Kleinkind erschrecken und in Angst und Panik versetzen. Was war aus dem harten Geschäftsmann geworden, der er früher einmal gewesen war, fragte er sich als er sich wieder der Glastür zuwendete.
Erik zuckte vor Schreck zusammen.
Der rundliche Kopf einer älteren Frau, Ende Fünfzig, starrte ihn an. Sie trug eine hellblaue Schürze und postgelbe Gummihandschuhe. Ihre Haare waren mit einem weißen Stoffband streng nach hinten geschnürt.
Erleichtert atmete Erik tief
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