Blut und Harz
durch. Frau Sandelholz, die Reinigungskraft, die seit über zwanzig Jahren jeden zweiten Abend die Praxis gründlichst wischte, blickte aus zusammengekniffenen Augen durch die Scheibe. Als sie ihn erkannte, legte sich ihre Augenpartie in tiefe Lachfältchen. Die Freundlichkeit lag aber nicht an Erik, denn die Putzfrau begrüßte jeden mit solcher Herzlichkeit. In ihrem Stammbaum musste sich eine italienische Mama befunden haben. Ohne zu Zögern drehte sie von innen den Schlüssel, der im Schloss steckte, und öffnete die Türe.
»Abend Herr Ritter. Schön, dass Sie auch mal wieder hier vorbeischauen. Herr Hawelka ist hinten. Er wird sich freuen! Er hat erst kürzlich von Ihnen gesprochen. Sie kennen ja den Weg.«
Erik nickte lächelnd, doch eigentlich war ihm gar nicht danach zumute. Ihm war kalt und seine Finger zitterten immer noch vom Adrenalinschub. Gleichzeitig fühlte er sich immer noch observiert und natürlich konnte sich hier jemand verstecken und ihm nachspionieren, aber warum sollte das jemand tun? Vielleicht Kühnle, der Waldbauer? Wollte er vielleicht Vergeltung? Rache?
Idiot, schalt er sich selbst in Gedanken, während er ein »Guten Abend« und ein leises Dankeschön brummte, dann quetschte er sich an Frau Sandelholz vorbei und huschte den beleuchteten Gang entlang in die hinteren Räumlichkeiten der fein eingerichteten Praxis. Der Boden war mit hellem, spiegelndem Marmor gefliest, der von anthrazitfarbenen Adern durchzogen war. Die Wände erstrahlten wie in jeder Arztpraxis in reinstem Weiß, doch moderne, farbenfrohe Kunstwerke schmückten die Wände. Erik kannte jedes dieser erbaulichen Bilder. Darunter befanden sich Abbildungen von Kandinsky, Kunstdrucke von Hundertwasser, deren goldene und silberne Metallfolien wie flüssiges Metall glänzten. Weiterhin gab es noch surreale Kollagen von Rosina Wachtmeister, die ebenfalls viel mit goldenen und spiegelnden Folien arbeitete. Jedes Bild, das in einen schwarzen Holzrahmen eingefasst war, wurde von einer speziellen Bilderrahmenlampe richtig in Szene gesetzt, die den Glanz und die Brillanz der Künstler und Kunstwerke doppelt unterstrich.
Erik würdigte an diesem Abend die Meisterwerke nur mit einem flüchtigen Blick. Zügig stapfte er mit hallenden Schritten durch den Flur. Dann stand er bereits vor Rupperts Türe. Sie war nur angelehnt und helles Licht quoll aus dem Spalt hervor. Erik klopfte leise daran, was mit einem fragenden »Ja?« quittiert wurde. Dann trat er ein und passierte im Inneren erst eine prächtige Birkenfeige, deren volles, gesprenkeltes Blattwerk bis zur Decke reichte.
Ruppert Hawelka blickte überrascht über den Rand seiner Lesebrille hinweg, die nur aus zwei kreisrunden Gläsern und dünnen Metallbügeln bestand. Eine Steve Jobs Brille. Sie vermittelte den Eindruck von Innovativität und Intelligenz.
Dazu trug der Arzt schneefarbene Jeans und ein weißes Polohemd von Ralph Lauren. Als er seinen alten Freund erkannte, verschwanden die nachdenklichen Runzeln auf der Stirn. Stattdessen verzog sich das glatt rasierte Gesicht, das nur von einem akkurat gestutzten Kinnbart betont wurde, zu einem breiten Grinsen.
»Erik! Schön, dass du mich mal wieder besuchst. Aber wie siehst du denn aus? Ist etwas passiert?«
Die kurz geschnittenen, bereits ergrauten Haare des Arztes lockten sich zu einem wirren Wuschelkopf. Erik war sich sicher, dass Ruppert in jede Universität der Erde hineinspazieren konnte und von jedem Studenten mit »Hallo Herr Professor« begrüßt wurde.
»Ruppert! Ja, frag lieber nicht. Auf dem Weg zu dir hätte ich beinahe einen Unfall gebaut.«
Die klaren, meerblauen Augen des Arztes weiteten sich.
»Wie das? Ist wieder so ein Idiot gerast? Irgendwann fährt sich noch einer zu Tode und ich darf ihn dann vom Asphalt kratzen.«
Erik schüttelte den Kopf, während er sich unaufgefordert in einen Stuhl sinken ließ. »Nein, ich muss eingeschlafen sein. Sekundenschlaf. Das ist mir noch nie passiert. Als ich wieder zu mir kam, rasten bereits die Lichter eines Autos auf mich zu. Ich bin auf die Gegenfahrbahn gekommen und konnte gerade noch ausweichen.«
Ruppert zuckte zusammen. Seine Stirn legte sich erneut in tiefe Falten. Er hatte die Geschichte mit dem Sekundenschlaf also geschluckt, registrierte Erik zufrieden. Reimund zu erwähnen wäre sowieso sinnlos gewesen. Erik hatte Ruppert am Ende seiner Studienzeit kennengelernt. Das war nach jenem Sommer und Reimunds Flucht in die Staaten gewesen.
»Erik Ritter, damit
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