Blut und Kupfer
Zudecke bis unters Kinn. »Ich bin der Letzte. Der Letzte, der von den vier Tafeln weiß.«
»Aber was ist es, Oheim? Was verbergen diese Tafeln?«
Der alte Mann schloss die Augen, um sich zu sammeln. Das Sprechen kostete ihn Kraft. Leise sagte er: »Bernardus hat uns damals auf die Tafeln gestoßen. Eine Legende, sagte er, aber in jeder Legende steckt ein wahrer Kern. Wir haben viele Reisen zusammen unternommen, meist im Auftrag von Kaiser Rudolf, der immer auf der Suche nach noch kostbareren Edelsteinen und Kunstwerken war, als er sie schon besaß. Francesco war damals Großherzog der Toskana, und die Beziehungen nach Prag waren noch nicht so eng wie später, als Rudolfs Liebe zur Steinschneidekunst die Castruccis aus Florenz an seinen Hof brachte.«
Marie hatte noch nicht zu fragen gewagt. »Habt Ihr Nachricht von den Castruccis erhalten?«
»Ach, ja. Ich weiß nicht, wo der Brief ist. Es war nicht viel, doch ein gewisser Marcello bestätigte, dass ein Signore Ruben Sandracce in der Prager Werkstatt tätig war, und auch die Verbindung zu Bernardus wurde erwähnt.« Remigius blinzelte und kratzte sich den ungepflegten Bart. »Habt Ihr den Mann wiedergesehen?«
Seufzend nickte Marie. »Unter den merkwürdigsten Umständen.« Sie berichtete von der gestohlenen Tafel und dem ermordeten Apotheker in Wasserburg und schloss mit Tulechows Fest und der Enthüllung der Tafel mit dem Radmotiv.
»Tulechow, sagtet Ihr?«
Unten knarrte die Tür, und Aras sprang sofort auf. Els brachte die dampfende Brühe in einem kleinen Topf herauf.
»Danke. Stell es dort hin.« Marie hob den Deckel des Tontopfs und schnupperte. Fettaugen schwammen auf der Hühnerbrühe. »Das wird Euch stärken. Ja, ja, Herr Severin von Tulechow. Begütert und bei Hof gut gelitten. Mit Graf von Larding befreundet. Viel weiß ich nicht von ihm.«
Remigius streckte die Hände nach der Schüssel aus und leckte sich die Lippen. »Petrus Codicillus von Tulechow war Rektor der Karls-Universität in Prag.«
»Codicillus von Tulechow?« Vor Schreck hätte Marie beinahe die Schüssel fallen lassen. »Bei Gott, das kann doch kein Zufall sein!«
Etwas Suppe war über den Rand geschwappt, und Aras machte sich sofort ans Auflecken. Marie gab die Schüssel ihrem Oheim, der sie an die Lippen setzte und schlürfte. Die Brocken aus Gemüse und Fleisch schob er sich mit den Fingern in den Mund.
»Wie viele Tulechows gibt es? Und wenn Severin Tulechow mit jenem Codicillus verwandt ist, kann er durch seine Familie von den Tafeln erfahren haben! Es ist möglich, dass jener Codicillus seinen Enkeln oder Neffen von der Legende erzählt hat. Was wisst Ihr über die Tafeln, Oheim?« Marie nahm Remigius die leere Schüssel ab und reichte ihm ein Tuch, mit dem er sich die Finger reinigte.
»Salzig, gut.« Der alte Mann schmatzte zufrieden und klopfte gegen das Bettgestell. »Hier ruht sie. Die Tafel mit dem Scagliola-Motiv des philosophischen Eis. Auf der Tafel von Tulechow war das Rad zu sehen. Dann fehlen noch die Tafeln mit dem Zodiakus und dem Weltzeitalter.« Er nickte mehrfach nachdenklich. »Damals in Prag wussten wir nur, dass es die Tafeln gibt! Bernardus hat uns mit dieser Legende von den vier Tafeln des da Pescia infiziert. Ganz verrückt hat er uns gemacht mit seinem Gerede von dem großen Geheimnis, das sich in ihnen verberge! Bernardus hatte vielerlei Wissenschaften studiert, die Medizin genauso wie die Mathematik, Physik, Astronomie und die Lehre von den Metallen. Er hat sich eingehend mit der Arbeit des Paracelsus beschäftigt, weil er selbst an die Neuerung glaubte. Wir müssen hinterfragen, pflegte Bernardus zu sagen, fragen und experimentieren, lernen durch Beobachten und dann unsere eigenen Schlüsse ziehen. Wenn wir ein Gegenbeispiel finden für eine schon bestehende Wahrheit, von der wir annehmen, sie bewiesen zu haben, dann kann sie nicht stimmen.«
Marie sah sich nach Els um, doch die putzte im unteren Raum. »Was Ihr da sagt, Oheim, ist Blasphemie!«
»Meint Ihr wirklich?« Remigius hüstelte, sah sie aber mit leuchtenden Augen an. »Sagt mir, warum?«
»Die Kirche lehrt uns, dass alles Wissen bereits in der Bibel vorhanden ist«, antwortete Marie schwach, denn überzeugt war sie davon nicht. Während ihrer Ehe mit Werno hatte sie oft den Gesprächen der Männer gelauscht, wenn diese abends in der Bibliothek über kontroverse Buchveröffentlichungen und Entdeckungen auf dem Gebiet der Wissenschaften diskutierten.
»Alles Wissen soll in einem
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