Blut und Kupfer
Buch stehen, das bereits über tausend Jahre auf dem Buckel hat? Was wären wir für arme Tröpfe, wenn wir nicht weiter denken würden als unsere Vorfahren, meint Ihr nicht? Ah, Ihr müsst nichts darauf sagen. Ich kann sehen, wie es hinter Eurer hübschen Stirn arbeitet.« Er zwinkerte ihr zu, und Marie suchte in dem blassen Gesicht nach dem jungen, abenteuerlustigen Mann, der sich als Steinschneider verdingt hatte, um seinen Studien nachzugehen und durch die Welt zu reisen. Hatte er ihrem Vater ähnlich gesehen? Vielleicht, zumindest hatten die Brüder ein Interesse für Kuriositäten geteilt. Sie dachte an den Bezoar und die Geschichten, die ihr Vater gern um seine seltsamen Kostbarkeiten gesponnen hatte. Als ältester Sohn war Leonhart von Kraiberg für die Leitung des Gutes bestimmt gewesen und hatte in seinem Leben früh Verantwortung für die Familie übernehmen müssen.
»Prag zur Zeit Kaiser Rudolfs war ein Hexenkessel! Eine Stadt, in der sich die größten Gelehrten und die übelsten Schurken und Scharlatane zugleich befanden. Dort war alles möglich, jedenfalls schien es uns so. Es herrschte eine Atmosphäre von vibrierender, förmlich greifbarer Sehnsucht nach dem Wissen um das Geheimnis des Lebens – was sage ich, die Leute waren gierig nach den geheimsten Geheimnissen der Natur. Nie wieder habe ich so viele selbsternannte Zauberer und Alchemisten gesehen wie damals in den alten Gassen zwischen Hirschgraben und Hofburg. Kaiser Rudolf, Gott sei seiner armen Seele gnädig, ließ sich von seinen Träumen leiten, weil er die Mittel dazu hatte.« Der alte Mann sah sie eindringlich an. »Steckt nicht in jedem von uns die Sehnsucht, dem Sinn des Ganzen hier … auf die Spur zu kommen?« Er machte eine vage Geste.
Marie blieb stumm. War es die Angst vor solchen unerhörten Gedanken, die sie lähmte, oder das Wissen um die grausamen Strafen, die jeden trafen, der sich gegen die kirchlichen Dogmen auflehnte? Oder waren es ihre Erfahrungen in der Residenzstadt, die sie gelehrt hatten, dass Neugier und eigenmächtiges Handeln sie in Gefahr brachten? Und nicht nur sie, sondern ihre gesamte Familie.
»Rudolf war ein kunstsinniger Mensch, er wollte sich auf seine Art der ernüchternden Realität seines irdischen Daseins entziehen. Ich war einmal mit Bernardus und Codicillus auf einem Bankett, einem dieser unvergesslich illustren Abende, bei denen man die Gelegenheit hatte, sich mit Gelehrten wie Tycho Brahe oder Václav Lanvin auszutauschen, als der Kaiser vom spanischen Botschafter mit Fragen zur Religionspolitik förmlich attackiert wurde. Da wetterte Rudolf ganz ungeniert gegen den ihn anwidernden Eifer von Protestanten und Katholiken, die sich schon bei Nichtigkeiten gegenseitig an die Gurgel gingen und die Klingen zückten. Den Kaiser ekelten die politischen Geschäfte, die sein Amt ausmachten.« Remigius’ Blick schweifte durch den Raum. »Arme Bella. Mir fehlt ihr Geschwätz. Ich war nie allein. Ohne sie fühle ich mich einsam.«
Marie nahm die Suppenschüssel und stellte sie auf das Tablett.
»Wartet. Gesteht einem alten Mann seine Abschweifungen zu. Die Bilder der Vergangenheit sind eigenwillig und lassen sich nicht immer gleich greifen. Ich war ein Steinschneider, ein Edelsteinschneider. Aber ich habe gelernt, dass die Welt in jedem Ding in ihrer ganzen Unangreifbarkeit versteckt ist. Steine sind etwas Einzigartiges wie Sterne, wie der Kosmos. Sie bündeln Kraft. Darüber habe ich oft mit Bernardus und den anderen gesprochen. In meinen Augen waren es die Steine, die das Geheimnis der Natur beinhalten, Thrasibaldus hat in allem das Göttliche gesucht, Melchior wollte Leben verlängern, und Codicillus war unser kritisches Gewissen.«
»Ich verstehe nicht …«, sagte Marie, sich ihres begrenzten Wissens bewusst.
»Es ging um die Frage nach dem Lapis philosophorum, dem Stein der Weisen. Thrasibaldus war davon überzeugt, dass der Lapis mit Christus gleichzusetzen sei. Christus ist der Sohn Gottes, der Sohn des Makrokosmos. Wenn es gelingt, den Lapis philosophorum künstlich zu erschaffen, mit Hilfe von alchemistischen Experimenten, dann könnten wir die echte Natur des Makrokosmos erkennen, uns dem ewigen Rhythmus der Zeit entziehen und Erlösung finden.« Remigius lächelte schwach. »Vielleicht steckt in diesen Tafeln die Antwort auf alle unsere Fragen. Das hat Bernardus vermutet, nachdem er in Florenz auf einen Brief von da Pescia gestoßen ist.«
»Glaubt Ihr das auch? Das klingt mir sehr
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