Blut und rote Seide
Rechtsanwalt selbständig gemacht. Dieser Berufsstand hatte in China zuvor nicht existiert oder war bedeutungslos gewesen. Anwälte galten, genauso wie Aktien, als Inbegriff der kapitalistischen Gesellschaft: heuchlerisch und nur etwas für die Reichen. In wichtigen Rechtsfällen traf die Partei die Entscheidung, oder zumindest eine Vorentscheidung, da sie das Sprachrohr einer Diktatur der Massen war. Liu Shaoqi, Maos designierter Nachfolger an der Parteispitze, war einsam im Gefängnis gestorben, ohne daß seine Familie davon gewußt hatte. Jia hatte also seine Laufbahn als Anwalt zu einer Zeit eingeschlagen, als der Beruf ausgesprochen unpopulär war: Offenbar war es von Anfang an sein Ziel, das Regime anzuprangern.
Als einer der ersten auf diesem Gebiet war er bald sehr erfolgreich. Nachdem im Zuge der Reformen das chinesische Rechtssystem erstmals anerkannt und ernstgenommen wurde, machte er sich als Verteidiger eines Dissidentenschriftstellers einen Namen. Der Richter war seinem brillanten Plädoyer nicht gewachsen, und da Teile der Verhandlung im Fernsehen ausgestrahlt wurden, applaudierte ihm bald ein großes Publikum. Daraufhin gewann diese »neue« Rechtspraxis an Popularität, und Anwaltskanzleien schossen aus dem Boden wie Bambus nach dem Regen.
Doch Jia war anders als die anderen. Er übernahm nicht nur profitable Fälle. Das lag zum Teil daran, daß er nach der Kulturrevolution ein reiches Familienerbe angetreten hatte und nicht für seinen Unterhalt arbeiten mußte. Immer wieder widmete er sich kontroversen Fällen und stand daher bereits auf der Schwarzen Liste der Stadtregierung, lange bevor er sich im Bauskandal um den Block Neun West engagiert hatte.
Hier brach Chen seine Lektüre ab. Auch er war während seiner Studienjahre auf die Schwarze Liste geraten, und zwar aufgrund einer willkürlichen politischen Auslegungen seiner modernistischen Gedichte.
Es war schon nach zehn, als Chen endlich in der Bibliothek anlangte. Susu, die Bibliothekarin mit den hübschen Grübchen, brachte ihm eine Tasse starken, belebenden Kaffee.
Dennoch schweiften seine Gedanken ab. Vielleicht zog es ihn doch mehr zu dem Mordfall als zu den Liebesgeschichten, eine Erkenntnis, die ihn nicht überraschte.
Erst nach der zweiten Tasse Kaffee konnte er sich einem weiteren Text zuwenden, den er in seinem Referat bearbeiten wollte, der »Geschichte von der schönen Yingying«.
Diese zhuanqi -Erzählung aus der Tang-Zeit stammte von Yuan Zhen, einem bekannten Dichter und Staatsmann. Literarischen Studien zufolge war die Erzählung weitgehend autobiographisch. Im Jahr 800 war Yuan nach Puzhou gereist, wo er einem Mädchen namens Yingying begegnete. Sie verliebten sich ineinander. Doch Yuan reiste in die Hauptstadt zurück, wo er sich mit einer Tochter aus der Familie Wei verheiratete. Später verarbeitete er die Begegnung in Puzhou zu einer Erzählung.
Darin reist ein Gelehrter namens Zhang zum Tempel der allumfassenden Hilfe, wo auch eine gewisse Frau Cui mit ihrer Tochter Yingying auf dem Weg nach Chang’an Rast macht. Als die in der Umgebung stationierten Truppen rebellieren, gelingt es Zhang mit Hilfe eines Freundes, Schutz für die im Tempel befindlichen Personen zu erwirken. Aus Dankbarkeit lädt Frau Cui ihn zu einem Bankett ein, in dessen Verlauf er Yingying kennenlernt und sich in sie verliebt, obwohl diese seinen Annäherungsversuchen zunächst mit Sprödigkeit begegnet und ihn mit dem Hinweise auf konfuzianische Moralbegriffe zurückweist. Eines Nachts jedoch nimmt die Sache eine dramatische Wendung: Sie erscheint in seinem Zimmer im Westflügel und bietet sich ihm an. Bald darauf verläßt er den Tempel, um in der Hauptstadt an der kaiserlichen Beamtenprüfung teilzunehmen. Dort bekommt er einen Brief von ihr, in dem sie unter anderem schreibt:
Als ich mich Euch darbot, umsorgtet Ihr mich mit ausgesuchter Güte und Umsicht, und ich meinte in meiner Unwissenheit, mich Euch auf ewig anvertrauen zu können. Doch wer konnte voraussehen, daß unsere Begegnung nicht zum Austausch von Hochzeitsgeschenken führen würde? Ich selbst setzte mich der Schmach aus und kann nun nicht mehr zum Eheweib taugen. Bis zum Ende meiner Tage wird es mich reuen, doch ich unterdrücke mein Seufzen. Denn was hilft es zu klagen?
Wenn Ihr aus gütigem Herzen meinen geheimen Wünschen willfahrt, so wird mir dies, selbst wenn ich längst gestorben bin, wie ein neues Leben erscheinen. Wenn ihr als Mann von Welt, der Gefühle ignoriert,
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