Blut und rote Seide
Unwichtiges beiseite laßt und nur das Große verfolgt, auch frühere Abmachungen nicht achtet und unser Gelübde für entbehrlich haltet, so bleibt meine Treue doch unwandelbar, selbst wenn Körper und Knochen dereinst zerfallen sind. In Sturm und Regen will ich Euren Spuren folgen. In diesen Worten liegt meine Treue zu Euch im Leben und in der Vergänglichkeit gegründet …
Yuans Protagonist zeigt diesen Brief einem Freund, bevor er Yingying mit einem überraschend moralisierenden Argument abweist, das den Abschluß der Erzählung bildet:
Es gilt die allgemeine Regel, daß diejenigen in der Welt, die vom Himmel mit besonderen Vorzügen ausgestattet sind, entweder sich selbst zerstören oder aber andere Menschen. Sobald Fräulein Cui einem wohlhabenden Mann in gehobener Position begegnet, wird sie ihren ganzen Charme einsetzen, ihn zu gewinnen, entweder durch das Spiel von Wolke und Regen oder als Regendrache und Ungeheuer. Wer weiß schon, wie sie sich verwandeln wird? Im Altertum geboten Kaiser Xin der Shang-Dynastie und König You der Zhou-Zeit über gewaltige Reiche. Doch trotz ihrer unbeschränkten Macht brachten es Frauen fertig, sie ins Verderben zu stürzen. Ihre Untertanen wurden vernichtet, ihre Leiber zerstückelt, und bis heute sind sie der Lächerlichkeit preisgegeben. Meine Tugendkraft reicht nicht hin, einem solchen Übel zu widerstehen. Daher habe ich meine Gefühle gezähmt.
An diesem Punkt der Handlung pflichtet der Autor mit den Worten, die er Zhangs engem Freund in den Mund legt, dessen Verhalten bei:
Die meisten seiner Zeitgenossen fanden, er habe seine Fehler in der rechten Weise korrigiert. In Gesellschaft von Freunden trage ich diese Gedanken öfters vor, um zu verhüten, daß ihnen ähnliches widerfahre oder daß jene, die solches bereits erlebt haben, dadurch nicht in die Irre geleitet werden.
Zhangs Entschluß markierte, wie Chen bemerkte, die plötzliche Kehrtwende und konterkarierte das Liebesthema. Das Argument des Protagonisten lief auf die Behauptung hinaus, man solle unwiderstehliche Frauen besser meiden, da sie sich als »Übel« für einen Mann erweisen und ihn gleich einem »Ungeheuer« zerstören können.
Chen fand, dieser Herr Zhang hätte sich eine bessere Rechtfertigung ausdenken können. Seine selbstgerechte Darstellung Yingyings als Ungeheuer kam ihm wie schamlose Heuchelei vor, eine billige Entschuldigung, nachdem er sie verführt und anschließend sitzengelassen hatte. Auf Chen wirkte die Geschichte faszinierend und verwirrend zugleich. Ihre Widersprüchlichkeit lud zu Spekulationen ein: Im ersten Teil wurde die romantische Leidenschaft positiv dargestellt, im zweiten verurteilt.
Allmählich schälte sich für sein Referat ein roter Faden heraus, der sich durch beide Geschichten zog: die plötzliche Wendung in der Liebesgeschichte. Die hanzeitliche Erzählung von Xiangru und Wenjun machte die Heldin dafür verantwortlich, daß der Held an der Durstkrankheit starb: Sie hatte ihn, so legte der Text es nahe, durch ihre sexuelle Unersättlichkeit geschwächt und letztlich zerstört. In der tangzeitlichen Erzählung von der schönen Yingying konnte der Held seine Zerstörung abwenden, indem er die Heldin als männermordendes Ungeheuer hinstellte. In beiden Texten hatte sich das romantische Thema in sein Gegenteil verkehrt.
Chen fühlte sich an etwas in den Fällen mit dem roten qipao erinnert, an die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Mörders. Dieser hatte seine Opfer entkleidet und umgebracht, nur um ihre Leichen anschließend in teure, elegante Kleider zu hüllen.
Es war nur eine vage Parallele, die sich ihm auch schon entzog, bevor er sie recht zu Ende gedacht hatte. Er versuchte, sich wieder auf seine Bücher zu konzentrieren und Näheres über den biographischen Hintergrund dieses Yuan herauszufinden. Manchmal konnte die Lebensgeschichte eines Verfassers beim Verständnis komplexer Texte weiterhelfen.
Im Fall der Ermittlungen half ihm das allerdings wenig, solange die Identität des Täters nicht geklärt war. Die Bedeutung seiner widersprüchlichen Botschaft blieb Chen verschlossen.
Wieder einmal waren seine Gedanken festgefahren; hin- und hergerissen zwischen zwei Projekten fühlte er sich verwirrt.
Gegen eins rief ihn Shen in der Bibliothek an.
»Haben Sie etwas herausgefunden?« fragte Chen.
»Das ist eine längere Geschichte, Oberinspektor, die ich Ihnen lieber persönlich erzählen würde«, erwiderte Shen. »Außerdem
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